wissen geistigen Entwicklung hervor, deren nähere Bestim¬ mung darzulegen wir nun zu versuchen haben. Auch in dem geistigen Leben gibt es jedoch viele qualitative Ver¬ schiedenheit und höhere und niedrigere Grade derselben. Studiren wir diese Gradation aufmerksam, so tritt uns ein sehr merkwürdiges Moment entgegen, welches allerdings eigentlich erst in den künftigen Abschnitten eine nähere Er¬ örterung erhalten kann, von welchem wir aber doch nicht unterlassen dürfen, schon hier bereits das Wesentlichste im Voraus zu erwähnen. Wir entdecken nämlich zuvörderst in der Geschichte des sich entwickelnden Geistes eine gewisse Wiederholung der Geschichte des ganzen Organismus, ein allmähliges Wachsen und Zunehmen, und zwar insbesondre eine allmählige Hinanbildung von einem Kindes¬ alter zu einer Pubertät und zuhöchst zum Pro¬ duciren neuer Ideen. Wir finden daher daß zu¬ erst der Geist gleichsam nur seine eigne Existenz consoli¬ dirt, daß er zuvörderst nur das Verhältniß seiner Vorstel¬ lungswelt ordnet, die Beziehung der einzelnen Vorstellungen unter einander regelt, kurz, daß er zuerst die Beziehung derselben zur eignen Individualität verstehen lernt, und wir nennen ihn auf dieser Stufe den Verstand. Auf einer höhern Stufe beginnt die Seele mit den verstandenen Vorstellungen selbstthätig zu gebahren, sie eigenthümlich zu combiniren und neue, so ihr niemals von Außen gebotene Vorstellungen daraus zu erzeugen, und dies ist denn gleichsam die treibende Jugendperiode des Geistes, wobei eben Dasjenige in ihm vorgeht, was wir im realen Or¬ ganismus die Entwicklung der Pubertät nennen. Auf die¬ ser Stufe geben wir dem Geiste, in so fern er auf solche Neues erzeugende Weise waltet und schafft, den Namen der Phantasie. -- Endlich aber vernimmt der Geist in einer Art, die wir erst späterhin deutlich machen können, das Geheimniß der Einheit in der Vielheit, er vernimmt unter diesem Gebahren mehr und mehr von seiner eignen gött¬
Carus, Psyche. 9
wiſſen geiſtigen Entwicklung hervor, deren nähere Beſtim¬ mung darzulegen wir nun zu verſuchen haben. Auch in dem geiſtigen Leben gibt es jedoch viele qualitative Ver¬ ſchiedenheit und höhere und niedrigere Grade derſelben. Studiren wir dieſe Gradation aufmerkſam, ſo tritt uns ein ſehr merkwürdiges Moment entgegen, welches allerdings eigentlich erſt in den künftigen Abſchnitten eine nähere Er¬ örterung erhalten kann, von welchem wir aber doch nicht unterlaſſen dürfen, ſchon hier bereits das Weſentlichſte im Voraus zu erwähnen. Wir entdecken nämlich zuvörderſt in der Geſchichte des ſich entwickelnden Geiſtes eine gewiſſe Wiederholung der Geſchichte des ganzen Organismus, ein allmähliges Wachſen und Zunehmen, und zwar insbeſondre eine allmählige Hinanbildung von einem Kindes¬ alter zu einer Pubertät und zuhöchſt zum Pro¬ duciren neuer Ideen. Wir finden daher daß zu¬ erſt der Geiſt gleichſam nur ſeine eigne Exiſtenz conſoli¬ dirt, daß er zuvörderſt nur das Verhältniß ſeiner Vorſtel¬ lungswelt ordnet, die Beziehung der einzelnen Vorſtellungen unter einander regelt, kurz, daß er zuerſt die Beziehung derſelben zur eignen Individualität verſtehen lernt, und wir nennen ihn auf dieſer Stufe den Verſtand. Auf einer höhern Stufe beginnt die Seele mit den verſtandenen Vorſtellungen ſelbſtthätig zu gebahren, ſie eigenthümlich zu combiniren und neue, ſo ihr niemals von Außen gebotene Vorſtellungen daraus zu erzeugen, und dies iſt denn gleichſam die treibende Jugendperiode des Geiſtes, wobei eben Dasjenige in ihm vorgeht, was wir im realen Or¬ ganismus die Entwicklung der Pubertät nennen. Auf die¬ ſer Stufe geben wir dem Geiſte, in ſo fern er auf ſolche Neues erzeugende Weiſe waltet und ſchafft, den Namen der Phantaſie. — Endlich aber vernimmt der Geiſt in einer Art, die wir erſt ſpäterhin deutlich machen können, das Geheimniß der Einheit in der Vielheit, er vernimmt unter dieſem Gebahren mehr und mehr von ſeiner eignen gött¬
Carus, Pſyche. 9
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wiſſen geiſtigen Entwicklung hervor, deren nähere Beſtim¬
mung darzulegen wir nun zu verſuchen haben. Auch in
dem geiſtigen Leben gibt es jedoch viele qualitative Ver¬
ſchiedenheit und höhere und niedrigere Grade derſelben.
Studiren wir dieſe Gradation aufmerkſam, ſo tritt uns ein
ſehr merkwürdiges Moment entgegen, welches allerdings
eigentlich erſt in den künftigen Abſchnitten eine nähere Er¬
örterung erhalten kann, von welchem wir aber doch nicht
unterlaſſen dürfen, ſchon hier bereits das Weſentlichſte im
Voraus zu erwähnen. Wir entdecken nämlich zuvörderſt in
der Geſchichte des ſich entwickelnden Geiſtes eine gewiſſe
Wiederholung der Geſchichte des ganzen Organismus, ein
allmähliges Wachſen und Zunehmen, und zwar insbeſondre
eine allmählige Hinanbildung von einem Kindes¬
alter zu einer Pubertät und zuhöchſt zum Pro¬
duciren neuer Ideen. Wir finden daher daß zu¬
erſt der Geiſt gleichſam nur ſeine eigne Exiſtenz conſoli¬
dirt, daß er zuvörderſt nur das Verhältniß ſeiner Vorſtel¬
lungswelt ordnet, die Beziehung der einzelnen Vorſtellungen
unter einander regelt, kurz, daß er zuerſt die Beziehung
derſelben zur eignen Individualität verſtehen lernt, und
wir nennen ihn auf dieſer Stufe den Verſtand. Auf
einer höhern Stufe beginnt die Seele mit den verſtandenen
Vorſtellungen ſelbſtthätig zu gebahren, ſie eigenthümlich zu
combiniren und neue, ſo ihr niemals von Außen gebotene
Vorſtellungen daraus zu erzeugen, und dies iſt denn
gleichſam die treibende Jugendperiode des Geiſtes, wobei
eben Dasjenige in ihm vorgeht, was wir im realen Or¬
ganismus die Entwicklung der Pubertät nennen. Auf die¬
ſer Stufe geben wir dem Geiſte, in ſo fern er auf ſolche
Neues erzeugende Weiſe waltet und ſchafft, den Namen der
Phantaſie. — Endlich aber vernimmt der Geiſt in einer
Art, die wir erſt ſpäterhin deutlich machen können, das
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/145>, abgerufen am 21.11.2024.
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