dividuelles und vielfältigst Verschiednes sei. Wir haben uns allerdings ganz fälschlich gewöhnt das besondre menschliche Vermögen -- Verstand -- Vernunft -- mittels deren wir gewisse allerdings an sich ewige und unabänder¬ liche Wahrheiten uns anzueignen versuchen, selbst als ein ewig sich Gleiches und Unabänderliches zu betrachten, da es sich doch mit ihnen verhält wie etwa mit dem Auge, welches in jedem Menschen und in jedem Thiere jenes eine merkwürdige Spannungsverhältniß -- Licht genannt -- jedesmal auf eine qualitativ verschiedne und eigenthümliche Weise anschaut. 1 So sehr nämlich auch, im Großen und Wesentlichen fast alle Anschauungsweisen der Augen über¬ einkommen, so sieht doch streng genommen Jeder nicht bloß -- was allbekannt ist -- seinen eignen Regenbogen, son¬ dern überhaupt seine eigne Licht- und Farbenwelt. Eben so werde ich späterhin darauf aufmerksam machen, wie unendlich verschieden Das sein kann, und -- nach der unendlichen Verschiedenheit menschlicher Individualitäten -- sein muß, was wir Verstand und Vernunft nennen, und wie falsch die Vorstellung sei, jegliches Vermögen der Art sei ein Einiges in sich Gleiches, von dem nur dem Einen eine größere, dem Andern eine kleinere Quantität zugetheilt worden sei, und wobei die tausendfältigen qualitativen Nu¬ ancen, welche Vermögen der Art in Verschiednen zukommen, ganz unbeachtet blieben. Wie gesagt, dies Alles muß später noch zur genauern Erörterung kommen; hier soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Einfluß die Erkennt¬ niß dieser Wahrheit für das Verstehen des Thierlebens und namentlich der Thierseele hat. Wer sich in der Psy¬ chologie des Thieres nicht los machen kann davon, daß
1 Im 3. Bande meines Systems der Physiologie habe ich gezeigt, daß die Fälle, wo ein Mensch etwa kein Blau sieht, oder ein Andrer nicht roth und grün unterscheiden kann, nur das Maximum dieser Ver¬ schiedenheit sind, daß aber eigentlich kein Mensch gerade eben so sieht, als der andre, weil eben er selbst ein Andrer, und auch kein Auge dem andern vollkommen gleich ist.
dividuelles und vielfältigſt Verſchiednes ſei. Wir haben uns allerdings ganz fälſchlich gewöhnt das beſondre menſchliche Vermögen — Verſtand — Vernunft — mittels deren wir gewiſſe allerdings an ſich ewige und unabänder¬ liche Wahrheiten uns anzueignen verſuchen, ſelbſt als ein ewig ſich Gleiches und Unabänderliches zu betrachten, da es ſich doch mit ihnen verhält wie etwa mit dem Auge, welches in jedem Menſchen und in jedem Thiere jenes eine merkwürdige Spannungsverhältniß — Licht genannt — jedesmal auf eine qualitativ verſchiedne und eigenthümliche Weiſe anſchaut. 1 So ſehr nämlich auch, im Großen und Weſentlichen faſt alle Anſchauungsweiſen der Augen über¬ einkommen, ſo ſieht doch ſtreng genommen Jeder nicht bloß — was allbekannt iſt — ſeinen eignen Regenbogen, ſon¬ dern überhaupt ſeine eigne Licht- und Farbenwelt. Eben ſo werde ich ſpäterhin darauf aufmerkſam machen, wie unendlich verſchieden Das ſein kann, und — nach der unendlichen Verſchiedenheit menſchlicher Individualitäten — ſein muß, was wir Verſtand und Vernunft nennen, und wie falſch die Vorſtellung ſei, jegliches Vermögen der Art ſei ein Einiges in ſich Gleiches, von dem nur dem Einen eine größere, dem Andern eine kleinere Quantität zugetheilt worden ſei, und wobei die tauſendfältigen qualitativen Nu¬ ancen, welche Vermögen der Art in Verſchiednen zukommen, ganz unbeachtet blieben. Wie geſagt, dies Alles muß ſpäter noch zur genauern Erörterung kommen; hier ſoll nur darauf aufmerkſam gemacht werden, welchen Einfluß die Erkennt¬ niß dieſer Wahrheit für das Verſtehen des Thierlebens und namentlich der Thierſeele hat. Wer ſich in der Pſy¬ chologie des Thieres nicht los machen kann davon, daß
1 Im 3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie habe ich gezeigt, daß die Fälle, wo ein Menſch etwa kein Blau ſieht, oder ein Andrer nicht roth und grün unterſcheiden kann, nur das Maximum dieſer Ver¬ ſchiedenheit ſind, daß aber eigentlich kein Menſch gerade eben ſo ſieht, als der andre, weil eben er ſelbſt ein Andrer, und auch kein Auge dem andern vollkommen gleich iſt.
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dividuelles und vielfältigſt Verſchiednes ſei. Wir
haben uns allerdings ganz fälſchlich gewöhnt das beſondre
menſchliche Vermögen — Verſtand — Vernunft — mittels
deren wir gewiſſe allerdings an ſich ewige und unabänder¬
liche Wahrheiten uns anzueignen verſuchen, ſelbſt als ein
ewig ſich Gleiches und Unabänderliches zu betrachten,
da es ſich doch mit ihnen verhält wie etwa mit dem Auge,
welches in jedem Menſchen und in jedem Thiere jenes eine
merkwürdige Spannungsverhältniß — Licht genannt —
jedesmal auf eine qualitativ verſchiedne und eigenthümliche
Weiſe anſchaut. 1 So ſehr nämlich auch, im Großen und
Weſentlichen faſt alle Anſchauungsweiſen der Augen über¬
einkommen, ſo ſieht doch ſtreng genommen Jeder nicht bloß
— was allbekannt iſt — ſeinen eignen Regenbogen, ſon¬
dern überhaupt ſeine eigne Licht- und Farbenwelt. Eben
ſo werde ich ſpäterhin darauf aufmerkſam machen, wie
unendlich verſchieden Das ſein kann, und — nach der
unendlichen Verſchiedenheit menſchlicher Individualitäten —
ſein muß, was wir Verſtand und Vernunft nennen, und
wie falſch die Vorſtellung ſei, jegliches Vermögen der Art
ſei ein Einiges in ſich Gleiches, von dem nur dem Einen
eine größere, dem Andern eine kleinere Quantität zugetheilt
worden ſei, und wobei die tauſendfältigen qualitativen Nu¬
ancen, welche Vermögen der Art in Verſchiednen zukommen,
ganz unbeachtet blieben. Wie geſagt, dies Alles muß ſpäter
noch zur genauern Erörterung kommen; hier ſoll nur darauf
aufmerkſam gemacht werden, welchen Einfluß die Erkennt¬
niß dieſer Wahrheit für das Verſtehen des Thierlebens
und namentlich der Thierſeele hat. Wer ſich in der Pſy¬
chologie des Thieres nicht los machen kann davon, daß
1 Im 3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie habe ich gezeigt,
daß die Fälle, wo ein Menſch etwa kein Blau ſieht, oder ein Andrer
nicht roth und grün unterſcheiden kann, nur das Maximum dieſer Ver¬
ſchiedenheit ſind, daß aber eigentlich kein Menſch gerade eben ſo
ſieht, als der andre, weil eben er ſelbſt ein Andrer, und auch kein Auge
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/149>, abgerufen am 16.02.2025.
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