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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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lichem Bewußtsein, die so viele Monotheisten ihrer Gottheit
beilegen, nicht minder auf Rechnung einer vorschnellen phan¬
tastischen Ausfüllung einer im Ganzen sehr unzureichenden
Erkenntniß und mangelnden Ausbildung höchster Vernunft
zu bringen. Und diese Wirkung der Phantasie macht sich
nicht bloß in Gegenständen der Religion, sie macht sich
eben so in Gegenständen der Wissenschaft bemerklich, und
kann hier wie dort Mißgeburten zu Tage fördern, wenn
ohne das hinreichende Material, sie allein die Lücken aus¬
füllt und sie allein, ohne die Reife der Vernunft abzu¬
warten, den Bau des wissenschaftlichen Kunstwerks voll¬
führen will. Daher so gewiß ohne Phantasie keine Religion
und kein Ganzes der Wissenschaft, so gewiß auch kommen
unzählige Fehlgeburten in beiden durch eine falsch ange¬
wendete phantastische Productivität des Geistes zu Stande.

Ein Andres ist es, wenn bei reich angesammeltem Mate¬
rial der im Verstande geordneten Vorstellungen, die volle
Pubertät des Geistes eintritt, wenn das was der Unzu¬
länglichkeit menschlicher Erfassung dem All gegenüber un¬
möglich bleibt, durch eine höhere Productivität des Geistes
sich vollendet, wenn die neu sich hervordrängenden Vor¬
stellungen großartig und schön und im Sinne der göttlichen
Gedanken der Welt sind, ja wenn diese Gedanken alsdann
mit einer Klarheit sich vollenden, daß wir erkennen, es
erscheine darin etwas das in der Wirklichkeit in dieser
Vollendung -- in dieser Abstraction -- nie gegeben sein
kann; -- dann reift auch an dieser schaffenden Macht und
unter fortwährender Bethätigung derselben die höchste Ent¬
wicklungsstufe des Geistes -- die Vernunft.

Es ist schon angedeutet worden, daß das Wort Ver¬
nunft
in unsrer Sprache sinniger als in irgend einer,
von "Vernehmen" abzuleiten sei, d. h. vom Ver¬
nehmen der Idee
. Der Begriff, dessen der Geist
schon auf der Stufe der Verstandesbildung fähig ist, ist
unäquat wenn von der Idee die Rede ist; denn eine Idee

lichem Bewußtſein, die ſo viele Monotheiſten ihrer Gottheit
beilegen, nicht minder auf Rechnung einer vorſchnellen phan¬
taſtiſchen Ausfüllung einer im Ganzen ſehr unzureichenden
Erkenntniß und mangelnden Ausbildung höchſter Vernunft
zu bringen. Und dieſe Wirkung der Phantaſie macht ſich
nicht bloß in Gegenſtänden der Religion, ſie macht ſich
eben ſo in Gegenſtänden der Wiſſenſchaft bemerklich, und
kann hier wie dort Mißgeburten zu Tage fördern, wenn
ohne das hinreichende Material, ſie allein die Lücken aus¬
füllt und ſie allein, ohne die Reife der Vernunft abzu¬
warten, den Bau des wiſſenſchaftlichen Kunſtwerks voll¬
führen will. Daher ſo gewiß ohne Phantaſie keine Religion
und kein Ganzes der Wiſſenſchaft, ſo gewiß auch kommen
unzählige Fehlgeburten in beiden durch eine falſch ange¬
wendete phantaſtiſche Productivität des Geiſtes zu Stande.

Ein Andres iſt es, wenn bei reich angeſammeltem Mate¬
rial der im Verſtande geordneten Vorſtellungen, die volle
Pubertät des Geiſtes eintritt, wenn das was der Unzu¬
länglichkeit menſchlicher Erfaſſung dem All gegenüber un¬
möglich bleibt, durch eine höhere Productivität des Geiſtes
ſich vollendet, wenn die neu ſich hervordrängenden Vor¬
ſtellungen großartig und ſchön und im Sinne der göttlichen
Gedanken der Welt ſind, ja wenn dieſe Gedanken alsdann
mit einer Klarheit ſich vollenden, daß wir erkennen, es
erſcheine darin etwas das in der Wirklichkeit in dieſer
Vollendung — in dieſer Abſtraction — nie gegeben ſein
kann; — dann reift auch an dieſer ſchaffenden Macht und
unter fortwährender Bethätigung derſelben die höchſte Ent¬
wicklungsſtufe des Geiſtes — die Vernunft.

Es iſt ſchon angedeutet worden, daß das Wort Ver¬
nunft
in unſrer Sprache ſinniger als in irgend einer,
von „Vernehmen“ abzuleiten ſei, d. h. vom Ver¬
nehmen der Idee
. Der Begriff, deſſen der Geiſt
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[169/0185] lichem Bewußtſein, die ſo viele Monotheiſten ihrer Gottheit beilegen, nicht minder auf Rechnung einer vorſchnellen phan¬ taſtiſchen Ausfüllung einer im Ganzen ſehr unzureichenden Erkenntniß und mangelnden Ausbildung höchſter Vernunft zu bringen. Und dieſe Wirkung der Phantaſie macht ſich nicht bloß in Gegenſtänden der Religion, ſie macht ſich eben ſo in Gegenſtänden der Wiſſenſchaft bemerklich, und kann hier wie dort Mißgeburten zu Tage fördern, wenn ohne das hinreichende Material, ſie allein die Lücken aus¬ füllt und ſie allein, ohne die Reife der Vernunft abzu¬ warten, den Bau des wiſſenſchaftlichen Kunſtwerks voll¬ führen will. Daher ſo gewiß ohne Phantaſie keine Religion und kein Ganzes der Wiſſenſchaft, ſo gewiß auch kommen unzählige Fehlgeburten in beiden durch eine falſch ange¬ wendete phantaſtiſche Productivität des Geiſtes zu Stande. Ein Andres iſt es, wenn bei reich angeſammeltem Mate¬ rial der im Verſtande geordneten Vorſtellungen, die volle Pubertät des Geiſtes eintritt, wenn das was der Unzu¬ länglichkeit menſchlicher Erfaſſung dem All gegenüber un¬ möglich bleibt, durch eine höhere Productivität des Geiſtes ſich vollendet, wenn die neu ſich hervordrängenden Vor¬ ſtellungen großartig und ſchön und im Sinne der göttlichen Gedanken der Welt ſind, ja wenn dieſe Gedanken alsdann mit einer Klarheit ſich vollenden, daß wir erkennen, es erſcheine darin etwas das in der Wirklichkeit in dieſer Vollendung — in dieſer Abſtraction — nie gegeben ſein kann; — dann reift auch an dieſer ſchaffenden Macht und unter fortwährender Bethätigung derſelben die höchſte Ent¬ wicklungsſtufe des Geiſtes — die Vernunft. Es iſt ſchon angedeutet worden, daß das Wort Ver¬ nunft in unſrer Sprache ſinniger als in irgend einer, von „Vernehmen“ abzuleiten ſei, d. h. vom Ver¬ nehmen der Idee. Der Begriff, deſſen der Geiſt ſchon auf der Stufe der Verſtandesbildung fähig iſt, iſt unäquat wenn von der Idee die Rede iſt; denn eine Idee

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/185>, abgerufen am 23.11.2024.