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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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im Gehirn. Zwischen der möglichen Dauer derselben
Organisation und Erhaltung derselben Modification von
Innervationsspannung, und der möglichen Dauer einer
Vorstellung muß daher nothwendig ein gewisser Zusammen¬
hang, ein Parallelismus, Statt finden, und wenn unleug¬
bar, sobald einmal die Idee des Individuums durch die
Gestaltung des Organismus sich dargelebt hat, dieser Ty¬
pus für die Zeit des Lebens im Wesentlichen erhalten blei¬
ben muß, obwohl immerfort innerlich in Schwankung und
in Auflösung und Wiederbildung begriffen, so wird eigent¬
lich dadurch zugleich die Frage über vergessen oder nicht
vergessen können vollkommen entschieden. Die am meisten
abgeschlossenen Erfahrungen geben auch hierüber die oben
schon erwähnten Fälle vom Verlust einzelner Sinnesorgane.
Wer das Gesicht verliert als zartes Kind, wenn noch die
Hirnmasse innerlich minder entwickelt und in rascher
Umbildung begriffen ist, der wird, wie sich die frühere
Substanz des Gehirns umbildet, auch so vollständig alle
Gesichtsvorstellungen vergessen, daß ihm deren auch in
Träumen nicht mehr erscheinen werden, wer hingegen, schon
erwachsen, das Gesicht verliert, der vergißt die Vorstellun¬
gen dieses Sinnes im ganzen Leben nicht mehr völlig, und
träumt mindestens noch oft sich als sehend, obwohl doch
auch hier nach einer Reihe von Jahren ein Ablassen dieser
Vorstellungen und ein selteneres Auftauchen derselben im¬
mer unverkennbar sein wird. Ja selbst die allgemeine
Erfahrung, daß wir aus den ersten drei Lebensjahren uns
als Erwachsene in der Regel schlechterdings nichts mehr zu
erinnern wissen, gehört hieher, und Viele werden sogar
kaum bis ins fünfte Jahr zurückdenken können. Nehmen
wir nun noch hinzu, daß wieder in hohen Lebensjahren,
wenn eine krankhafte Erweichung des Gehirns (die Hirn¬
erweichung der Greise) Platz greift, allgemeine Vergeßlich¬
keit die unausbleibliche Folge davon ist, so muß es hie¬
durch bis zur vollkommensten Evidenz erwiesen sein, daß

Carus, Psyche. 14

im Gehirn. Zwiſchen der möglichen Dauer derſelben
Organiſation und Erhaltung derſelben Modification von
Innervationsſpannung, und der möglichen Dauer einer
Vorſtellung muß daher nothwendig ein gewiſſer Zuſammen¬
hang, ein Parallelismus, Statt finden, und wenn unleug¬
bar, ſobald einmal die Idee des Individuums durch die
Geſtaltung des Organismus ſich dargelebt hat, dieſer Ty¬
pus für die Zeit des Lebens im Weſentlichen erhalten blei¬
ben muß, obwohl immerfort innerlich in Schwankung und
in Auflöſung und Wiederbildung begriffen, ſo wird eigent¬
lich dadurch zugleich die Frage über vergeſſen oder nicht
vergeſſen können vollkommen entſchieden. Die am meiſten
abgeſchloſſenen Erfahrungen geben auch hierüber die oben
ſchon erwähnten Fälle vom Verluſt einzelner Sinnesorgane.
Wer das Geſicht verliert als zartes Kind, wenn noch die
Hirnmaſſe innerlich minder entwickelt und in raſcher
Umbildung begriffen iſt, der wird, wie ſich die frühere
Subſtanz des Gehirns umbildet, auch ſo vollſtändig alle
Geſichtsvorſtellungen vergeſſen, daß ihm deren auch in
Träumen nicht mehr erſcheinen werden, wer hingegen, ſchon
erwachſen, das Geſicht verliert, der vergißt die Vorſtellun¬
gen dieſes Sinnes im ganzen Leben nicht mehr völlig, und
träumt mindeſtens noch oft ſich als ſehend, obwohl doch
auch hier nach einer Reihe von Jahren ein Ablaſſen dieſer
Vorſtellungen und ein ſelteneres Auftauchen derſelben im¬
mer unverkennbar ſein wird. Ja ſelbſt die allgemeine
Erfahrung, daß wir aus den erſten drei Lebensjahren uns
als Erwachſene in der Regel ſchlechterdings nichts mehr zu
erinnern wiſſen, gehört hieher, und Viele werden ſogar
kaum bis ins fünfte Jahr zurückdenken können. Nehmen
wir nun noch hinzu, daß wieder in hohen Lebensjahren,
wenn eine krankhafte Erweichung des Gehirns (die Hirn¬
erweichung der Greiſe) Platz greift, allgemeine Vergeßlich¬
keit die unausbleibliche Folge davon iſt, ſo muß es hie¬
durch bis zur vollkommenſten Evidenz erwieſen ſein, daß

Carus, Pſyche. 14
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[209/0225] im Gehirn. Zwiſchen der möglichen Dauer derſelben Organiſation und Erhaltung derſelben Modification von Innervationsſpannung, und der möglichen Dauer einer Vorſtellung muß daher nothwendig ein gewiſſer Zuſammen¬ hang, ein Parallelismus, Statt finden, und wenn unleug¬ bar, ſobald einmal die Idee des Individuums durch die Geſtaltung des Organismus ſich dargelebt hat, dieſer Ty¬ pus für die Zeit des Lebens im Weſentlichen erhalten blei¬ ben muß, obwohl immerfort innerlich in Schwankung und in Auflöſung und Wiederbildung begriffen, ſo wird eigent¬ lich dadurch zugleich die Frage über vergeſſen oder nicht vergeſſen können vollkommen entſchieden. Die am meiſten abgeſchloſſenen Erfahrungen geben auch hierüber die oben ſchon erwähnten Fälle vom Verluſt einzelner Sinnesorgane. Wer das Geſicht verliert als zartes Kind, wenn noch die Hirnmaſſe innerlich minder entwickelt und in raſcher Umbildung begriffen iſt, der wird, wie ſich die frühere Subſtanz des Gehirns umbildet, auch ſo vollſtändig alle Geſichtsvorſtellungen vergeſſen, daß ihm deren auch in Träumen nicht mehr erſcheinen werden, wer hingegen, ſchon erwachſen, das Geſicht verliert, der vergißt die Vorſtellun¬ gen dieſes Sinnes im ganzen Leben nicht mehr völlig, und träumt mindeſtens noch oft ſich als ſehend, obwohl doch auch hier nach einer Reihe von Jahren ein Ablaſſen dieſer Vorſtellungen und ein ſelteneres Auftauchen derſelben im¬ mer unverkennbar ſein wird. Ja ſelbſt die allgemeine Erfahrung, daß wir aus den erſten drei Lebensjahren uns als Erwachſene in der Regel ſchlechterdings nichts mehr zu erinnern wiſſen, gehört hieher, und Viele werden ſogar kaum bis ins fünfte Jahr zurückdenken können. Nehmen wir nun noch hinzu, daß wieder in hohen Lebensjahren, wenn eine krankhafte Erweichung des Gehirns (die Hirn¬ erweichung der Greiſe) Platz greift, allgemeine Vergeßlich¬ keit die unausbleibliche Folge davon iſt, ſo muß es hie¬ durch bis zur vollkommenſten Evidenz erwieſen ſein, daß Carus, Pſyche. 14

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/225>, abgerufen am 21.11.2024.