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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Aus dem Vorhergehenden ergibt es sich übrigens gar
wohl, welches das Verhältniß dieses Gefühls zum ganzen
Menschen sein muß. Das Brüten über traurige Empfin¬
dungen lähmt die Thätigkeit im Allgemeinen und zerstört
die Fülle des bildenden Lebens; die Uebergänge solcher Zu¬
stände in gefahrvolle Krankheiten sind daher etwas, das
dem Arzte häufig genug vorkommt. Von andern Gefühlen
ist der Haß der Trauer im Ganzen näher verwandt als
die Liebe, und leicht verbindet sich, insbesondere in kleinern
Seelen, mit der Trübe des Gemüths auch die bittere menschen¬
feindliche Stimmung, während in größern Seelen die Trauer
hinwiederum gegen das Gefühl des Erhabenen sich wendet,
und dann das hervorbringt, was die Griechen mit dem
Namen des Pathos bezeichneten, und als höchste Aufgabe
der Tragödie betrachteten. Diese letztere Eigenthümlichkeit
der Trauer ist es zugleich, wodurch die merkwürdige Be¬
ziehung des Schmerzes und der Trauer auf poetische Pro¬
ductivität dem Psychologen sich verdeutlicht. Man darf es
nämlich als eine bekannte Erfahrung betrachten, daß in
Menschen, welche sonst wenig Phantasie und gar keine
Neigung zu dichterischen oder künstlerischen Productionen
zeigen, oft mit einem Male und mit einer gewissen Gewalt¬
samkeit ein Bestreben hervortritt, in irgend einem poetischen
Werke, sei es in Ton oder Wort oder Bild, das Innerste
ihres Wesens auszusprechen und kund zu thun, wenn ein
großer Schmerz über sie gekommen und eine wahre und
tiefe Trauer sie beherrscht. Es gilt zwar von andern Ge¬
fühlen auch, daß sie eine solche Productivität des bewußten
Geistes erwecken, aber in dieser Stärke nur noch von der
Liebe, und selbst von dieser zum Theil auch deßhalb, weil
die Liebe ihrem ganzen Wesen nach von einer nie ganz zu
befriedigenden und darum immer etwas Schmerzliches in
sich tragenden Sehnsucht durchdrungen und erfüllt ist. Unter
vielen Völkern kann man eben aus jener Ursache entschieden
nachweisen, daß die ersten Anfänge der Poesie, die ersten

Aus dem Vorhergehenden ergibt es ſich übrigens gar
wohl, welches das Verhältniß dieſes Gefühls zum ganzen
Menſchen ſein muß. Das Brüten über traurige Empfin¬
dungen lähmt die Thätigkeit im Allgemeinen und zerſtört
die Fülle des bildenden Lebens; die Uebergänge ſolcher Zu¬
ſtände in gefahrvolle Krankheiten ſind daher etwas, das
dem Arzte häufig genug vorkommt. Von andern Gefühlen
iſt der Haß der Trauer im Ganzen näher verwandt als
die Liebe, und leicht verbindet ſich, insbeſondere in kleinern
Seelen, mit der Trübe des Gemüths auch die bittere menſchen¬
feindliche Stimmung, während in größern Seelen die Trauer
hinwiederum gegen das Gefühl des Erhabenen ſich wendet,
und dann das hervorbringt, was die Griechen mit dem
Namen des Pathos bezeichneten, und als höchſte Aufgabe
der Tragödie betrachteten. Dieſe letztere Eigenthümlichkeit
der Trauer iſt es zugleich, wodurch die merkwürdige Be¬
ziehung des Schmerzes und der Trauer auf poetiſche Pro¬
ductivität dem Pſychologen ſich verdeutlicht. Man darf es
nämlich als eine bekannte Erfahrung betrachten, daß in
Menſchen, welche ſonſt wenig Phantaſie und gar keine
Neigung zu dichteriſchen oder künſtleriſchen Productionen
zeigen, oft mit einem Male und mit einer gewiſſen Gewalt¬
ſamkeit ein Beſtreben hervortritt, in irgend einem poetiſchen
Werke, ſei es in Ton oder Wort oder Bild, das Innerſte
ihres Weſens auszuſprechen und kund zu thun, wenn ein
großer Schmerz über ſie gekommen und eine wahre und
tiefe Trauer ſie beherrſcht. Es gilt zwar von andern Ge¬
fühlen auch, daß ſie eine ſolche Productivität des bewußten
Geiſtes erwecken, aber in dieſer Stärke nur noch von der
Liebe, und ſelbſt von dieſer zum Theil auch deßhalb, weil
die Liebe ihrem ganzen Weſen nach von einer nie ganz zu
befriedigenden und darum immer etwas Schmerzliches in
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[278/0294] Aus dem Vorhergehenden ergibt es ſich übrigens gar wohl, welches das Verhältniß dieſes Gefühls zum ganzen Menſchen ſein muß. Das Brüten über traurige Empfin¬ dungen lähmt die Thätigkeit im Allgemeinen und zerſtört die Fülle des bildenden Lebens; die Uebergänge ſolcher Zu¬ ſtände in gefahrvolle Krankheiten ſind daher etwas, das dem Arzte häufig genug vorkommt. Von andern Gefühlen iſt der Haß der Trauer im Ganzen näher verwandt als die Liebe, und leicht verbindet ſich, insbeſondere in kleinern Seelen, mit der Trübe des Gemüths auch die bittere menſchen¬ feindliche Stimmung, während in größern Seelen die Trauer hinwiederum gegen das Gefühl des Erhabenen ſich wendet, und dann das hervorbringt, was die Griechen mit dem Namen des Pathos bezeichneten, und als höchſte Aufgabe der Tragödie betrachteten. Dieſe letztere Eigenthümlichkeit der Trauer iſt es zugleich, wodurch die merkwürdige Be¬ ziehung des Schmerzes und der Trauer auf poetiſche Pro¬ ductivität dem Pſychologen ſich verdeutlicht. Man darf es nämlich als eine bekannte Erfahrung betrachten, daß in Menſchen, welche ſonſt wenig Phantaſie und gar keine Neigung zu dichteriſchen oder künſtleriſchen Productionen zeigen, oft mit einem Male und mit einer gewiſſen Gewalt¬ ſamkeit ein Beſtreben hervortritt, in irgend einem poetiſchen Werke, ſei es in Ton oder Wort oder Bild, das Innerſte ihres Weſens auszuſprechen und kund zu thun, wenn ein großer Schmerz über ſie gekommen und eine wahre und tiefe Trauer ſie beherrſcht. Es gilt zwar von andern Ge¬ fühlen auch, daß ſie eine ſolche Productivität des bewußten Geiſtes erwecken, aber in dieſer Stärke nur noch von der Liebe, und ſelbſt von dieſer zum Theil auch deßhalb, weil die Liebe ihrem ganzen Weſen nach von einer nie ganz zu befriedigenden und darum immer etwas Schmerzliches in ſich tragenden Sehnſucht durchdrungen und erfüllt iſt. Unter vielen Völkern kann man eben aus jener Urſache entſchieden nachweiſen, daß die erſten Anfänge der Poeſie, die erſten

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/294>, abgerufen am 23.11.2024.