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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Mythen, die ersten Lieder und Gesänge einen eigenthüm¬
lichen schwermüthigen düstern melancholischen Charakter haben,
und wenn man noch in der Neuzeit die frei aus innerer
poetischer Nöthigung entstehenden Kunstwerke sondern wollte
in solche, die aus überfließender Lust und Freudigkeit, und
solche, die aus innerm Schmerz und als Errettung aus
trüben Stimmungen entstehen, so würde die große Mehr¬
zahl durchaus auf die Seite der letztern fallen. Die Er¬
klärung dieser Erscheinung liegt unzweifelhaft eben in den
im Vorhergehenden ausgesprochenen Worten: nämlich es
sucht die in Betrübniß befangene Seele, in ihrem innern
Drange nach Glückseeligkeit, eine Errettung von dem ihrem
innern Wesen unangemessenen Zustande, und sie ruft auf
zu diesem Zwecke die in ihr verborgene productive Kraft --
die Phantasie, theils um sich aus Vorstellungen eine Welt
zu schaffen, über deren beglückende Wesenheit der Schmerz
ihres gegenwärtigen Daseins vergessen werden kann, theils
auch nur, um ihren eignen trüben und unglücklichen Zu¬
stand sich vollkommen gegenständlich zu machen. In diesem
Gegenständlich-werden liegt aber deßhalb eine so große Be¬
schwichtigung, weil es als eine Spiegelung wirkt und da¬
durch dasjenige gewährt, welches wir weiter oben schon für
das Wachsthum der Seele so bedeutend nennen mußten --
die Erkenntniß. Alles Erkennen nämlich, alles wahr¬
hafte Wissen ist etwas so Erhabenes, daß es eben darum,
wie in ihm überhaupt das Letzte und Höchste der Entwick¬
lung der Seele erreicht wird, auch mächtig und eigenthüm¬
lich befreiend und beglückend auf die Seele wirken muß,
und so liegt eben schon darin, daß der Geist durch eine
eigenthümliche Productivität der Phantasie etwas zu er¬
schaffen vermag, woran er sich selbst klar werden kann,
eine besondere Beglückung und eine merkwürdige Errettung
aus der Dunkelheit des Zustandes der Trauer.

Schon auf diese Weise gewährt also dieses sich Gegen¬
ständlichmachen eine gewisse Errettung aus dem Zustande

Mythen, die erſten Lieder und Geſänge einen eigenthüm¬
lichen ſchwermüthigen düſtern melancholiſchen Charakter haben,
und wenn man noch in der Neuzeit die frei aus innerer
poetiſcher Nöthigung entſtehenden Kunſtwerke ſondern wollte
in ſolche, die aus überfließender Luſt und Freudigkeit, und
ſolche, die aus innerm Schmerz und als Errettung aus
trüben Stimmungen entſtehen, ſo würde die große Mehr¬
zahl durchaus auf die Seite der letztern fallen. Die Er¬
klärung dieſer Erſcheinung liegt unzweifelhaft eben in den
im Vorhergehenden ausgeſprochenen Worten: nämlich es
ſucht die in Betrübniß befangene Seele, in ihrem innern
Drange nach Glückſeeligkeit, eine Errettung von dem ihrem
innern Weſen unangemeſſenen Zuſtande, und ſie ruft auf
zu dieſem Zwecke die in ihr verborgene productive Kraft —
die Phantaſie, theils um ſich aus Vorſtellungen eine Welt
zu ſchaffen, über deren beglückende Weſenheit der Schmerz
ihres gegenwärtigen Daſeins vergeſſen werden kann, theils
auch nur, um ihren eignen trüben und unglücklichen Zu¬
ſtand ſich vollkommen gegenſtändlich zu machen. In dieſem
Gegenſtändlich-werden liegt aber deßhalb eine ſo große Be¬
ſchwichtigung, weil es als eine Spiegelung wirkt und da¬
durch dasjenige gewährt, welches wir weiter oben ſchon für
das Wachsthum der Seele ſo bedeutend nennen mußten —
die Erkenntniß. Alles Erkennen nämlich, alles wahr¬
hafte Wiſſen iſt etwas ſo Erhabenes, daß es eben darum,
wie in ihm überhaupt das Letzte und Höchſte der Entwick¬
lung der Seele erreicht wird, auch mächtig und eigenthüm¬
lich befreiend und beglückend auf die Seele wirken muß,
und ſo liegt eben ſchon darin, daß der Geiſt durch eine
eigenthümliche Productivität der Phantaſie etwas zu er¬
ſchaffen vermag, woran er ſich ſelbſt klar werden kann,
eine beſondere Beglückung und eine merkwürdige Errettung
aus der Dunkelheit des Zuſtandes der Trauer.

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ſtändlichmachen eine gewiſſe Errettung aus dem Zuſtande

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[279/0295] Mythen, die erſten Lieder und Geſänge einen eigenthüm¬ lichen ſchwermüthigen düſtern melancholiſchen Charakter haben, und wenn man noch in der Neuzeit die frei aus innerer poetiſcher Nöthigung entſtehenden Kunſtwerke ſondern wollte in ſolche, die aus überfließender Luſt und Freudigkeit, und ſolche, die aus innerm Schmerz und als Errettung aus trüben Stimmungen entſtehen, ſo würde die große Mehr¬ zahl durchaus auf die Seite der letztern fallen. Die Er¬ klärung dieſer Erſcheinung liegt unzweifelhaft eben in den im Vorhergehenden ausgeſprochenen Worten: nämlich es ſucht die in Betrübniß befangene Seele, in ihrem innern Drange nach Glückſeeligkeit, eine Errettung von dem ihrem innern Weſen unangemeſſenen Zuſtande, und ſie ruft auf zu dieſem Zwecke die in ihr verborgene productive Kraft — die Phantaſie, theils um ſich aus Vorſtellungen eine Welt zu ſchaffen, über deren beglückende Weſenheit der Schmerz ihres gegenwärtigen Daſeins vergeſſen werden kann, theils auch nur, um ihren eignen trüben und unglücklichen Zu¬ ſtand ſich vollkommen gegenſtändlich zu machen. In dieſem Gegenſtändlich-werden liegt aber deßhalb eine ſo große Be¬ ſchwichtigung, weil es als eine Spiegelung wirkt und da¬ durch dasjenige gewährt, welches wir weiter oben ſchon für das Wachsthum der Seele ſo bedeutend nennen mußten — die Erkenntniß. Alles Erkennen nämlich, alles wahr¬ hafte Wiſſen iſt etwas ſo Erhabenes, daß es eben darum, wie in ihm überhaupt das Letzte und Höchſte der Entwick¬ lung der Seele erreicht wird, auch mächtig und eigenthüm¬ lich befreiend und beglückend auf die Seele wirken muß, und ſo liegt eben ſchon darin, daß der Geiſt durch eine eigenthümliche Productivität der Phantaſie etwas zu er¬ ſchaffen vermag, woran er ſich ſelbſt klar werden kann, eine beſondere Beglückung und eine merkwürdige Errettung aus der Dunkelheit des Zuſtandes der Trauer. Schon auf dieſe Weiſe gewährt alſo dieſes ſich Gegen¬ ſtändlichmachen eine gewiſſe Errettung aus dem Zuſtande

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/295>, abgerufen am 23.11.2024.