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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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ständniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf
sagen, eine solche Liebe sei die erste Erlösung aus dem
Einzel-Sein und der erste Schritt zur Wiederkehr in das
All, und aus dieser Entäußerung von aller Selbstheit gehe
am leichtesten hervor die unbedingte Hingebung an ein über
allem Bewußtsein schwebendes Göttliche, mit einem Worte
zu der Liebe zu Gott. Es ist daher nicht unwichtig
zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen
zu Theil geworden ist das Liebesgefühl der Geschlechter in
allen seinen Phasen zu durchleben, gerade dadurch zugleich
oftmals besonders gereift werden, in spätern Lebensperioden,
theils, wenn die Flamme des geschlechtlichen Liebesgefühls
verglüht ist, der vollkommenen Geistesliebe fähig zu
werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott
zu empfinden und zu erfahren.

Diese Betrachtung ist es aber zugleich, die uns zur
Erkenntniß der wichtigsten Beziehung und Bedeutung der Liebe
überhaupt für den gesammten Menschen vorbereiten kann.
Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, so beruht
alle höhere Entwicklung
, welche die Seele des
Menschen überhaupt erreichen kann
, urwesentlich
auf der Liebe
. Nicht ohne Grund sagt der Apostel: "und
wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle;" denn in ihrem tiefsten Wesen ist die Liebe eigent¬
lich schlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger,
Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und
bewegender Zug nach Vervollständigung unsers
Daseins nach höchster und seeligster Vollendung
unserer eigensten Existenz
. Eben also, weil zunächst
anzuerkennen ist, daß die Geschlechter in ihrem Einzelleben
und für-sich-sein ein Unvollständiges sind, tritt die Liebe
der Geschlechter mit dieser, alle anderen irdischen Liebes¬
formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor
und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die

ſtändniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf
ſagen, eine ſolche Liebe ſei die erſte Erlöſung aus dem
Einzel-Sein und der erſte Schritt zur Wiederkehr in das
All, und aus dieſer Entäußerung von aller Selbſtheit gehe
am leichteſten hervor die unbedingte Hingebung an ein über
allem Bewußtſein ſchwebendes Göttliche, mit einem Worte
zu der Liebe zu Gott. Es iſt daher nicht unwichtig
zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen
zu Theil geworden iſt das Liebesgefühl der Geſchlechter in
allen ſeinen Phaſen zu durchleben, gerade dadurch zugleich
oftmals beſonders gereift werden, in ſpätern Lebensperioden,
theils, wenn die Flamme des geſchlechtlichen Liebesgefühls
verglüht iſt, der vollkommenen Geiſtesliebe fähig zu
werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott
zu empfinden und zu erfahren.

Dieſe Betrachtung iſt es aber zugleich, die uns zur
Erkenntniß der wichtigſten Beziehung und Bedeutung der Liebe
überhaupt für den geſammten Menſchen vorbereiten kann.
Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, ſo beruht
alle höhere Entwicklung
, welche die Seele des
Menſchen überhaupt erreichen kann
, urweſentlich
auf der Liebe
. Nicht ohne Grund ſagt der Apoſtel: „und
wenn ich mit Menſchen- und Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, ſo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle;“ denn in ihrem tiefſten Weſen iſt die Liebe eigent¬
lich ſchlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger,
Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und
bewegender Zug nach Vervollſtändigung unſers
Daſeins nach höchſter und ſeeligſter Vollendung
unſerer eigenſten Exiſtenz
. Eben alſo, weil zunächſt
anzuerkennen iſt, daß die Geſchlechter in ihrem Einzelleben
und für-ſich-ſein ein Unvollſtändiges ſind, tritt die Liebe
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[297/0313] ſtändniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf ſagen, eine ſolche Liebe ſei die erſte Erlöſung aus dem Einzel-Sein und der erſte Schritt zur Wiederkehr in das All, und aus dieſer Entäußerung von aller Selbſtheit gehe am leichteſten hervor die unbedingte Hingebung an ein über allem Bewußtſein ſchwebendes Göttliche, mit einem Worte zu der Liebe zu Gott. Es iſt daher nicht unwichtig zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen zu Theil geworden iſt das Liebesgefühl der Geſchlechter in allen ſeinen Phaſen zu durchleben, gerade dadurch zugleich oftmals beſonders gereift werden, in ſpätern Lebensperioden, theils, wenn die Flamme des geſchlechtlichen Liebesgefühls verglüht iſt, der vollkommenen Geiſtesliebe fähig zu werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott zu empfinden und zu erfahren. Dieſe Betrachtung iſt es aber zugleich, die uns zur Erkenntniß der wichtigſten Beziehung und Bedeutung der Liebe überhaupt für den geſammten Menſchen vorbereiten kann. Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, ſo beruht alle höhere Entwicklung, welche die Seele des Menſchen überhaupt erreichen kann, urweſentlich auf der Liebe. Nicht ohne Grund ſagt der Apoſtel: „und wenn ich mit Menſchen- und Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, ſo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle;“ denn in ihrem tiefſten Weſen iſt die Liebe eigent¬ lich ſchlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger, Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und bewegender Zug nach Vervollſtändigung unſers Daſeins nach höchſter und ſeeligſter Vollendung unſerer eigenſten Exiſtenz. Eben alſo, weil zunächſt anzuerkennen iſt, daß die Geſchlechter in ihrem Einzelleben und für-ſich-ſein ein Unvollſtändiges ſind, tritt die Liebe der Geſchlechter mit dieſer, alle anderen irdiſchen Liebes¬ formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/313>, abgerufen am 22.11.2024.