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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Bedingung zu jeder höhern Ausbildung. Und doch ist nicht
diese Liebesform deßhalb die allein fortbildende und ent¬
wickelnde, sondern eben so ist es die Liebe zu allen Welt¬
erscheinungen, zum Boden auf dem wir erwuchsen und der
uns nährte, zum Gestirn das uns leuchtete, zur Luft die
wir athmen, zur Pflanze und zum Baum, zu Thieren,
und insbesondere zu den vielgestaltigen Erscheinungen des
Menschen: nur durch Liebe zu allen diesem entsteht theils
die Lust das Wesen der Erscheinung zu durchforschen, und
so wird die Erkenntniß genährt, theils die Lust, in
Spiegelbildern dieser Erscheinung ihr inneres Wesen selbst
neu wieder darzustellen, und auf diese Weise wird Poesie
und Kunst durch Liebe entwickelt. Wo keine Liebe ist, wo
nicht nach irgend einer Richtung die Welt innig mit dem
Zuge der Liebe umfaßt wird, da wird auch die Seele un¬
fruchtbar bleiben und nicht zu Kunst und Wissen, nicht zu
höherer Entwicklung gelangen, sie kann nur sein als "ein
tönendes Erz und eine klingende Schelle". Wo dagegen die
Seele in der liebevollen Erkenntniß der Welt und in der
von Liebe durchdrungenen Bestrebung zur Kunst sich ent¬
faltet hat, und wo sie an der Liebe der Geschlechter gereift
ist, da wird sich nun auch der Zug nach dem höchsten gött¬
lichen Urgrunde alles Lebens und aller Erscheinung deut¬
licher und deutlicher hervorthun, da wird der Seele klar
werden, daß in Allem, was sie vorher als ein Besonderes
zu lieben glaubte und auch wirklich liebte, sie doch eigent¬
lich unbewußterweise wesentlich das Höchste, das alle diesem
zum Grunde Liegende geliebt hat, und mit dieser klareren
Erkenntniß wird sie nun auch in sich der höchsten Liebe --
der Liebe zu Gott -- sich bewußt werden. Hiebei ist aber
wieder insbesondere zu erinnern, daß, wie wir schon in der
früher betrachteten Entwicklungsgeschichte der Seele bemerken
mußten, nicht die höhere Stufe etwa die vorhergehende
niedere ausschließt oder vernichtet, sondern vielmehr sie ein¬
schließt, umschließt, in sich aufnimmt und dadurch auch sie

Bedingung zu jeder höhern Ausbildung. Und doch iſt nicht
dieſe Liebesform deßhalb die allein fortbildende und ent¬
wickelnde, ſondern eben ſo iſt es die Liebe zu allen Welt¬
erſcheinungen, zum Boden auf dem wir erwuchſen und der
uns nährte, zum Geſtirn das uns leuchtete, zur Luft die
wir athmen, zur Pflanze und zum Baum, zu Thieren,
und insbeſondere zu den vielgeſtaltigen Erſcheinungen des
Menſchen: nur durch Liebe zu allen dieſem entſteht theils
die Luſt das Weſen der Erſcheinung zu durchforſchen, und
ſo wird die Erkenntniß genährt, theils die Luſt, in
Spiegelbildern dieſer Erſcheinung ihr inneres Weſen ſelbſt
neu wieder darzuſtellen, und auf dieſe Weiſe wird Poeſie
und Kunſt durch Liebe entwickelt. Wo keine Liebe iſt, wo
nicht nach irgend einer Richtung die Welt innig mit dem
Zuge der Liebe umfaßt wird, da wird auch die Seele un¬
fruchtbar bleiben und nicht zu Kunſt und Wiſſen, nicht zu
höherer Entwicklung gelangen, ſie kann nur ſein als „ein
tönendes Erz und eine klingende Schelle“. Wo dagegen die
Seele in der liebevollen Erkenntniß der Welt und in der
von Liebe durchdrungenen Beſtrebung zur Kunſt ſich ent¬
faltet hat, und wo ſie an der Liebe der Geſchlechter gereift
iſt, da wird ſich nun auch der Zug nach dem höchſten gött¬
lichen Urgrunde alles Lebens und aller Erſcheinung deut¬
licher und deutlicher hervorthun, da wird der Seele klar
werden, daß in Allem, was ſie vorher als ein Beſonderes
zu lieben glaubte und auch wirklich liebte, ſie doch eigent¬
lich unbewußterweiſe weſentlich das Höchſte, das alle dieſem
zum Grunde Liegende geliebt hat, und mit dieſer klareren
Erkenntniß wird ſie nun auch in ſich der höchſten Liebe —
der Liebe zu Gott — ſich bewußt werden. Hiebei iſt aber
wieder insbeſondere zu erinnern, daß, wie wir ſchon in der
früher betrachteten Entwicklungsgeſchichte der Seele bemerken
mußten, nicht die höhere Stufe etwa die vorhergehende
niedere ausſchließt oder vernichtet, ſondern vielmehr ſie ein¬
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[298/0314] Bedingung zu jeder höhern Ausbildung. Und doch iſt nicht dieſe Liebesform deßhalb die allein fortbildende und ent¬ wickelnde, ſondern eben ſo iſt es die Liebe zu allen Welt¬ erſcheinungen, zum Boden auf dem wir erwuchſen und der uns nährte, zum Geſtirn das uns leuchtete, zur Luft die wir athmen, zur Pflanze und zum Baum, zu Thieren, und insbeſondere zu den vielgeſtaltigen Erſcheinungen des Menſchen: nur durch Liebe zu allen dieſem entſteht theils die Luſt das Weſen der Erſcheinung zu durchforſchen, und ſo wird die Erkenntniß genährt, theils die Luſt, in Spiegelbildern dieſer Erſcheinung ihr inneres Weſen ſelbſt neu wieder darzuſtellen, und auf dieſe Weiſe wird Poeſie und Kunſt durch Liebe entwickelt. Wo keine Liebe iſt, wo nicht nach irgend einer Richtung die Welt innig mit dem Zuge der Liebe umfaßt wird, da wird auch die Seele un¬ fruchtbar bleiben und nicht zu Kunſt und Wiſſen, nicht zu höherer Entwicklung gelangen, ſie kann nur ſein als „ein tönendes Erz und eine klingende Schelle“. Wo dagegen die Seele in der liebevollen Erkenntniß der Welt und in der von Liebe durchdrungenen Beſtrebung zur Kunſt ſich ent¬ faltet hat, und wo ſie an der Liebe der Geſchlechter gereift iſt, da wird ſich nun auch der Zug nach dem höchſten gött¬ lichen Urgrunde alles Lebens und aller Erſcheinung deut¬ licher und deutlicher hervorthun, da wird der Seele klar werden, daß in Allem, was ſie vorher als ein Beſonderes zu lieben glaubte und auch wirklich liebte, ſie doch eigent¬ lich unbewußterweiſe weſentlich das Höchſte, das alle dieſem zum Grunde Liegende geliebt hat, und mit dieſer klareren Erkenntniß wird ſie nun auch in ſich der höchſten Liebe — der Liebe zu Gott — ſich bewußt werden. Hiebei iſt aber wieder insbeſondere zu erinnern, daß, wie wir ſchon in der früher betrachteten Entwicklungsgeſchichte der Seele bemerken mußten, nicht die höhere Stufe etwa die vorhergehende niedere ausſchließt oder vernichtet, ſondern vielmehr ſie ein¬ ſchließt, umſchließt, in ſich aufnimmt und dadurch auch ſie

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/314>, abgerufen am 22.11.2024.