allerdings unmittelbar in ihrem Wesen vervollkommnet und veredelt, -- so auch diese höchste Liebesform, die Liebe zu Gott, keineswegs die Bedeutung haben kann, die früheren Liebesformen auszuschließen oder zu vernichten, sondern daß sie vielmehr dieselben einschließen, umfassen und sie selbst in ihrem Wesen vervollständigen und erhöhen wird. Der tie¬ fern Betrachtung wird es sonach klar, daß die ächte Ent¬ wicklung des Menschen an eine Durchbildung durch eine Vielheit von Liebesformen geknüpft ist, und daß, so wie die Liebe zur Welt überhaupt, so insbesondere die Liebe der Geschlechter, große und bedeutungsvolle Glieder in dieser Kette sind, welche das Tiefste an das Höchste zu knüpfen bestimmt ist, und welche das anfänglich mindest Seelische zu dem vollkommen Seelischen, zur Seeligkeit hinaufzulei¬ ten allein vollständig vermag.
Wenn nun von diesem Standpunkt aus die Frage über Bedeutung der Liebe und besonders auch der Liebe der Geschlechter allein wahrhaft entschieden werden kann, so wird zugleich von hieraus auch über das, was von krankhaften Abschweifungen der Liebe noch zu sagen wäre, seine alleinige und vollständige Lösung und Entscheidung erhalten. Wenn wir uns nämlich eben im Vorhergegangenen wahrhaft überzeugt hatten, daß, eben so wie die Liebe der Geschlechter recht eigentlich das Herz und der Mittelpunkt alles Liebesgefühls genannt werden darf, die Liebe überhaupt auch das Herz der Gefühle, oder das Urgefühl selbst sei, so muß dadurch zugleich unfehlbar die Geschichte des Kranken, des Schweren und Abnormen, gleich¬ sam der Nachtseite des Liebesgefühls eine wichtige Bedeu¬ tung erhalten. Die Sprache selbst weist mit Bestimmtheit auf diese Wichtigkeit hin, indem sie für alle in fieberhafter Heftigkeit auftretende, und deßhalb gemeinhin ohne Unter¬ schied als krankhaft betrachtete Liebe, ein besonderes Wort, das Wort Leidenschaft, (Passio) geschaffen hat. Eine gewisse Verwirrung beim Gebrauche dieses Wortes ist indeß
allerdings unmittelbar in ihrem Weſen vervollkommnet und veredelt, — ſo auch dieſe höchſte Liebesform, die Liebe zu Gott, keineswegs die Bedeutung haben kann, die früheren Liebesformen auszuſchließen oder zu vernichten, ſondern daß ſie vielmehr dieſelben einſchließen, umfaſſen und ſie ſelbſt in ihrem Weſen vervollſtändigen und erhöhen wird. Der tie¬ fern Betrachtung wird es ſonach klar, daß die ächte Ent¬ wicklung des Menſchen an eine Durchbildung durch eine Vielheit von Liebesformen geknüpft iſt, und daß, ſo wie die Liebe zur Welt überhaupt, ſo insbeſondere die Liebe der Geſchlechter, große und bedeutungsvolle Glieder in dieſer Kette ſind, welche das Tiefſte an das Höchſte zu knüpfen beſtimmt iſt, und welche das anfänglich mindeſt Seeliſche zu dem vollkommen Seeliſchen, zur Seeligkeit hinaufzulei¬ ten allein vollſtändig vermag.
Wenn nun von dieſem Standpunkt aus die Frage über Bedeutung der Liebe und beſonders auch der Liebe der Geſchlechter allein wahrhaft entſchieden werden kann, ſo wird zugleich von hieraus auch über das, was von krankhaften Abſchweifungen der Liebe noch zu ſagen wäre, ſeine alleinige und vollſtändige Löſung und Entſcheidung erhalten. Wenn wir uns nämlich eben im Vorhergegangenen wahrhaft überzeugt hatten, daß, eben ſo wie die Liebe der Geſchlechter recht eigentlich das Herz und der Mittelpunkt alles Liebesgefühls genannt werden darf, die Liebe überhaupt auch das Herz der Gefühle, oder das Urgefühl ſelbſt ſei, ſo muß dadurch zugleich unfehlbar die Geſchichte des Kranken, des Schweren und Abnormen, gleich¬ ſam der Nachtſeite des Liebesgefühls eine wichtige Bedeu¬ tung erhalten. Die Sprache ſelbſt weiſt mit Beſtimmtheit auf dieſe Wichtigkeit hin, indem ſie für alle in fieberhafter Heftigkeit auftretende, und deßhalb gemeinhin ohne Unter¬ ſchied als krankhaft betrachtete Liebe, ein beſonderes Wort, das Wort Leidenſchaft, (Passio) geſchaffen hat. Eine gewiſſe Verwirrung beim Gebrauche dieſes Wortes iſt indeß
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allerdings unmittelbar in ihrem Weſen vervollkommnet und
veredelt, — ſo auch dieſe höchſte Liebesform, die Liebe zu
Gott, keineswegs die Bedeutung haben kann, die früheren
Liebesformen auszuſchließen oder zu vernichten, ſondern daß
ſie vielmehr dieſelben einſchließen, umfaſſen und ſie ſelbſt in
ihrem Weſen vervollſtändigen und erhöhen wird. Der tie¬
fern Betrachtung wird es ſonach klar, daß die ächte Ent¬
wicklung des Menſchen an eine Durchbildung durch eine
Vielheit von Liebesformen geknüpft iſt, und daß, ſo wie
die Liebe zur Welt überhaupt, ſo insbeſondere die Liebe der
Geſchlechter, große und bedeutungsvolle Glieder in dieſer
Kette ſind, welche das Tiefſte an das Höchſte zu knüpfen
beſtimmt iſt, und welche das anfänglich mindeſt Seeliſche
zu dem vollkommen Seeliſchen, zur Seeligkeit hinaufzulei¬
ten allein vollſtändig vermag.
Wenn nun von dieſem Standpunkt aus die Frage
über Bedeutung der Liebe und beſonders auch der Liebe
der Geſchlechter allein wahrhaft entſchieden werden kann,
ſo wird zugleich von hieraus auch über das, was von
krankhaften Abſchweifungen der Liebe noch zu
ſagen wäre, ſeine alleinige und vollſtändige Löſung und
Entſcheidung erhalten. Wenn wir uns nämlich eben im
Vorhergegangenen wahrhaft überzeugt hatten, daß, eben ſo
wie die Liebe der Geſchlechter recht eigentlich das Herz und
der Mittelpunkt alles Liebesgefühls genannt werden darf,
die Liebe überhaupt auch das Herz der Gefühle, oder das
Urgefühl ſelbſt ſei, ſo muß dadurch zugleich unfehlbar die
Geſchichte des Kranken, des Schweren und Abnormen, gleich¬
ſam der Nachtſeite des Liebesgefühls eine wichtige Bedeu¬
tung erhalten. Die Sprache ſelbſt weiſt mit Beſtimmtheit
auf dieſe Wichtigkeit hin, indem ſie für alle in fieberhafter
Heftigkeit auftretende, und deßhalb gemeinhin ohne Unter¬
ſchied als krankhaft betrachtete Liebe, ein beſonderes Wort,
das Wort Leidenſchaft, (Passio) geſchaffen hat. Eine
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/315>, abgerufen am 22.11.2024.
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