Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Beziehung auf jenes Wechselverhältniß beider Ideen ein
stätes Oscilliren zwischen Bewußtem und Unbewußtem jeden¬
falls unerläßlich sein und in alle Ewigkeit bleiben. 1 Anders
ist es freilich mit dem Liebesverhältniß zu einem Schein¬
bilde, als bei welchem es immer nothwendig gefordert wird,
daß bei fortgehendem Wachsthume der Seelen es sich gänz¬
lich löse und in fortrückender Entwicklung untergehe. Daß
nun allerdings die meisten Verhältnisse gewöhnlichen mensch¬
lichen Daseins nur hieher gehören, mag denn freilich
als abermals eine der mannichfaltigen Unvollkommenheiten
der Menschheit, wie sie auf diesem Planeten sich darzuleben
bestimmt ist, keinesweges geläugnet werden.

Möge es denn somit gelungen sein, an der Geschichte
desjenigen Gefühls, welches oft ausschließlich als Liebe
bezeichnet zu werden pflegt, gleichsam als an dem wichtigsten
Beispiele, die psychischen Vorgänge des Liebegefühls im
Allgemeinen zur deutlichern Erkenntniß gebracht zu haben.
Wollte man alle die einzelnen Formen dieses Gefühls, von
der immer nur auf einem Irrthum beruhenden Liebe zu
materiellen Besitzthümern an, bis zur Liebe zur Natur über¬
haupt, zur Liebe zum Vaterlande, zu Kindern und Eltern,
zur Menschheit und endlich bis zur Liebe zu Gott -- nach
allen ihren Phasen durchgehen und verfolgen, so würden
zwar allerdings nach allen Richtungen hin wesentliche Be¬
reicherungen der Psychologie sich ergeben können, doch würde
eine solche Ausführlichkeit zu sehr den Raum für die gegen¬
wärtige Aufgabe überschreiten. Wir wenden uns daher jetzt
zu der viel kürzer abzuhandelnden Geschichte des in jeder
Beziehung letzten Gefühls, zur

1 Es ist sehr merkwürdig, wahrzunehmen, wie auf diese Weise, gerade
bei höher sich entwickelnden Naturen, das Dasein einer andern Seele recht
unumgänglich die stätige Bedingung ihres Fortwachsens sein kann, selbst
dann, wenn dieses andere Dasein nicht mehr in den Kreis ihres eignen
zeitlichen Lebens fällt. -- Die Art, wie Dante's weitere geistige Ent¬
wicklung ganz an den Gedanken an Beatrice gebunden war, kann ein
ungefähres Beispiel eines solchen Verhältnisses geben.

Beziehung auf jenes Wechſelverhältniß beider Ideen ein
ſtätes Oscilliren zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem jeden¬
falls unerläßlich ſein und in alle Ewigkeit bleiben. 1 Anders
iſt es freilich mit dem Liebesverhältniß zu einem Schein¬
bilde, als bei welchem es immer nothwendig gefordert wird,
daß bei fortgehendem Wachsthume der Seelen es ſich gänz¬
lich löſe und in fortrückender Entwicklung untergehe. Daß
nun allerdings die meiſten Verhältniſſe gewöhnlichen menſch¬
lichen Daſeins nur hieher gehören, mag denn freilich
als abermals eine der mannichfaltigen Unvollkommenheiten
der Menſchheit, wie ſie auf dieſem Planeten ſich darzuleben
beſtimmt iſt, keinesweges geläugnet werden.

Möge es denn ſomit gelungen ſein, an der Geſchichte
desjenigen Gefühls, welches oft ausſchließlich als Liebe
bezeichnet zu werden pflegt, gleichſam als an dem wichtigſten
Beiſpiele, die pſychiſchen Vorgänge des Liebegefühls im
Allgemeinen zur deutlichern Erkenntniß gebracht zu haben.
Wollte man alle die einzelnen Formen dieſes Gefühls, von
der immer nur auf einem Irrthum beruhenden Liebe zu
materiellen Beſitzthümern an, bis zur Liebe zur Natur über¬
haupt, zur Liebe zum Vaterlande, zu Kindern und Eltern,
zur Menſchheit und endlich bis zur Liebe zu Gott — nach
allen ihren Phaſen durchgehen und verfolgen, ſo würden
zwar allerdings nach allen Richtungen hin weſentliche Be¬
reicherungen der Pſychologie ſich ergeben können, doch würde
eine ſolche Ausführlichkeit zu ſehr den Raum für die gegen¬
wärtige Aufgabe überſchreiten. Wir wenden uns daher jetzt
zu der viel kürzer abzuhandelnden Geſchichte des in jeder
Beziehung letzten Gefühls, zur

1 Es iſt ſehr merkwürdig, wahrzunehmen, wie auf dieſe Weiſe, gerade
bei höher ſich entwickelnden Naturen, das Daſein einer andern Seele recht
unumgänglich die ſtätige Bedingung ihres Fortwachſens ſein kann, ſelbſt
dann, wenn dieſes andere Daſein nicht mehr in den Kreis ihres eignen
zeitlichen Lebens fällt. — Die Art, wie Dante's weitere geiſtige Ent¬
wicklung ganz an den Gedanken an Beatrice gebunden war, kann ein
ungefähres Beiſpiel eines ſolchen Verhältniſſes geben.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0330" n="314"/>
Beziehung auf jenes Wech&#x017F;elverhältniß beider Ideen ein<lb/>
&#x017F;tätes Oscilliren zwi&#x017F;chen Bewußtem und Unbewußtem jeden¬<lb/>
falls unerläßlich &#x017F;ein und in alle Ewigkeit bleiben. <note place="foot" n="1">Es i&#x017F;t &#x017F;ehr merkwürdig, wahrzunehmen, wie auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e, gerade<lb/>
bei höher &#x017F;ich entwickelnden Naturen, das Da&#x017F;ein einer andern Seele recht<lb/>
unumgänglich die &#x017F;tätige Bedingung ihres Fortwach&#x017F;ens &#x017F;ein kann, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
dann, wenn die&#x017F;es andere Da&#x017F;ein nicht mehr in den Kreis ihres eignen<lb/>
zeitlichen Lebens fällt. &#x2014; Die Art, wie <hi rendition="#g">Dante's</hi> weitere gei&#x017F;tige Ent¬<lb/>
wicklung ganz an den Gedanken an <hi rendition="#g">Beatrice</hi> gebunden war, kann ein<lb/>
ungefähres Bei&#x017F;piel eines &#x017F;olchen Verhältni&#x017F;&#x017F;es geben.</note> Anders<lb/>
i&#x017F;t es freilich mit dem Liebesverhältniß zu einem Schein¬<lb/>
bilde, als bei welchem es immer nothwendig gefordert wird,<lb/>
daß bei fortgehendem Wachsthume der Seelen es &#x017F;ich gänz¬<lb/>
lich lö&#x017F;e und in fortrückender Entwicklung untergehe. Daß<lb/>
nun allerdings die mei&#x017F;ten Verhältni&#x017F;&#x017F;e gewöhnlichen men&#x017F;ch¬<lb/>
lichen Da&#x017F;eins nur <hi rendition="#g">hieher</hi> gehören, mag denn freilich<lb/>
als abermals eine der mannichfaltigen Unvollkommenheiten<lb/>
der Men&#x017F;chheit, wie &#x017F;ie auf die&#x017F;em Planeten &#x017F;ich darzuleben<lb/>
be&#x017F;timmt i&#x017F;t, keinesweges geläugnet werden.</p><lb/>
              <p>Möge es denn &#x017F;omit gelungen &#x017F;ein, an der Ge&#x017F;chichte<lb/><hi rendition="#g">desjenigen</hi> Gefühls, welches oft aus&#x017F;chließlich als Liebe<lb/>
bezeichnet zu werden pflegt, gleich&#x017F;am als an dem wichtig&#x017F;ten<lb/>
Bei&#x017F;piele, die p&#x017F;ychi&#x017F;chen Vorgänge des Liebegefühls im<lb/>
Allgemeinen zur deutlichern Erkenntniß gebracht zu haben.<lb/>
Wollte man alle die einzelnen Formen die&#x017F;es Gefühls, von<lb/>
der immer nur auf einem Irrthum beruhenden Liebe zu<lb/>
materiellen Be&#x017F;itzthümern an, bis zur Liebe zur Natur über¬<lb/>
haupt, zur Liebe zum Vaterlande, zu Kindern und Eltern,<lb/>
zur Men&#x017F;chheit und endlich bis zur Liebe zu Gott &#x2014; nach<lb/>
allen ihren Pha&#x017F;en durchgehen und verfolgen, &#x017F;o würden<lb/>
zwar allerdings nach allen Richtungen hin we&#x017F;entliche Be¬<lb/>
reicherungen der P&#x017F;ychologie &#x017F;ich ergeben können, doch würde<lb/>
eine &#x017F;olche Ausführlichkeit zu &#x017F;ehr den Raum für die gegen¬<lb/>
wärtige Aufgabe über&#x017F;chreiten. Wir wenden uns daher jetzt<lb/>
zu der viel kürzer abzuhandelnden Ge&#x017F;chichte des in jeder<lb/>
Beziehung letzten Gefühls, zur</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[314/0330] Beziehung auf jenes Wechſelverhältniß beider Ideen ein ſtätes Oscilliren zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem jeden¬ falls unerläßlich ſein und in alle Ewigkeit bleiben. 1 Anders iſt es freilich mit dem Liebesverhältniß zu einem Schein¬ bilde, als bei welchem es immer nothwendig gefordert wird, daß bei fortgehendem Wachsthume der Seelen es ſich gänz¬ lich löſe und in fortrückender Entwicklung untergehe. Daß nun allerdings die meiſten Verhältniſſe gewöhnlichen menſch¬ lichen Daſeins nur hieher gehören, mag denn freilich als abermals eine der mannichfaltigen Unvollkommenheiten der Menſchheit, wie ſie auf dieſem Planeten ſich darzuleben beſtimmt iſt, keinesweges geläugnet werden. Möge es denn ſomit gelungen ſein, an der Geſchichte desjenigen Gefühls, welches oft ausſchließlich als Liebe bezeichnet zu werden pflegt, gleichſam als an dem wichtigſten Beiſpiele, die pſychiſchen Vorgänge des Liebegefühls im Allgemeinen zur deutlichern Erkenntniß gebracht zu haben. Wollte man alle die einzelnen Formen dieſes Gefühls, von der immer nur auf einem Irrthum beruhenden Liebe zu materiellen Beſitzthümern an, bis zur Liebe zur Natur über¬ haupt, zur Liebe zum Vaterlande, zu Kindern und Eltern, zur Menſchheit und endlich bis zur Liebe zu Gott — nach allen ihren Phaſen durchgehen und verfolgen, ſo würden zwar allerdings nach allen Richtungen hin weſentliche Be¬ reicherungen der Pſychologie ſich ergeben können, doch würde eine ſolche Ausführlichkeit zu ſehr den Raum für die gegen¬ wärtige Aufgabe überſchreiten. Wir wenden uns daher jetzt zu der viel kürzer abzuhandelnden Geſchichte des in jeder Beziehung letzten Gefühls, zur 1 Es iſt ſehr merkwürdig, wahrzunehmen, wie auf dieſe Weiſe, gerade bei höher ſich entwickelnden Naturen, das Daſein einer andern Seele recht unumgänglich die ſtätige Bedingung ihres Fortwachſens ſein kann, ſelbſt dann, wenn dieſes andere Daſein nicht mehr in den Kreis ihres eignen zeitlichen Lebens fällt. — Die Art, wie Dante's weitere geiſtige Ent¬ wicklung ganz an den Gedanken an Beatrice gebunden war, kann ein ungefähres Beiſpiel eines ſolchen Verhältniſſes geben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/330
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/330>, abgerufen am 22.11.2024.