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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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4. Geschichte des Hasses.

Wenn uns die vorhergehenden Betrachtungen dahin
geführt haben, das Liebesgefühl anzuerkennen als "die ein¬
geborne Sehnsucht der Idee nach Vervollständigung und
Vollendung", so können wir nun das Gefühl des Hasses
eben so entschieden bezeichnen als das eingeborne Wider¬
streben der Idee gegen alles jener Sehnsucht nach
Vollendung entschieden Ungemäße und sich ihr Ent¬
gegensetzende
. Die Liebe nannten wir daher ein positiv
actives Gefühl, den Haß müssen wir als ein negativ actives
bezeichnen, und zwar als ein negatives in verschiedener
Beziehung, einmal in wie fern es dieses Ungemäße und
Hindernde entschieden negirt, ein andermal aber auch in
wie fern selbst sein Object ein negatives ist. Nicht, wie
in der Liebe nämlich, welche bloß nach dem allein Positiven,
dem Göttlichen, und zwar in allen seinen verschiedenen,
bald recht, bald falsch erkannten Formen strebt, ist das,
was hier angestrebt wird, ein Positives, sondern selbst das,
was verneint wird, ist ein Verneinendes, nämlich ein bald
wahr, bald falsch als das Göttliche verneinend Angenom¬
menes. So lange man in dem Wissen so kindisch verfuhr,
dem positiven Princip des Göttlichen eben so ein positives
Princip des Teuflischen gegenüber zu stellen, wie etwa in der
Kindheit der Physik man noch von einem besondern Princip
der Kälte, gegenüber dem Princip der Wärme, handeln konnte,
so lange hätte man von dem Hasse sagen dürfen: er müsse
von Haus aus allen Formen des Bösen, und im höchsten
Grade dem Teufel zugewendet sein; -- indeß derlei Unsinn
zerstäubt im Lichte einer höhern philosophischen Erkenntniß
und bedarf sonach hier keiner weitern Beachtung; es geht
vielmehr aus dem Obigen und aus allen frühern Betrach¬
tungen hervor, daß der Haß überhaupt kein eigentliches
individuelles oder irgend persönliches Object haben könne,
sondern daß sein angemessenes Object in Wahrheit nur sein

4. Geſchichte des Haſſes.

Wenn uns die vorhergehenden Betrachtungen dahin
geführt haben, das Liebesgefühl anzuerkennen als „die ein¬
geborne Sehnſucht der Idee nach Vervollſtändigung und
Vollendung“, ſo können wir nun das Gefühl des Haſſes
eben ſo entſchieden bezeichnen als das eingeborne Wider¬
ſtreben der Idee gegen alles jener Sehnſucht nach
Vollendung entſchieden Ungemäße und ſich ihr Ent¬
gegenſetzende
. Die Liebe nannten wir daher ein poſitiv
actives Gefühl, den Haß müſſen wir als ein negativ actives
bezeichnen, und zwar als ein negatives in verſchiedener
Beziehung, einmal in wie fern es dieſes Ungemäße und
Hindernde entſchieden negirt, ein andermal aber auch in
wie fern ſelbſt ſein Object ein negatives iſt. Nicht, wie
in der Liebe nämlich, welche bloß nach dem allein Poſitiven,
dem Göttlichen, und zwar in allen ſeinen verſchiedenen,
bald recht, bald falſch erkannten Formen ſtrebt, iſt das,
was hier angeſtrebt wird, ein Poſitives, ſondern ſelbſt das,
was verneint wird, iſt ein Verneinendes, nämlich ein bald
wahr, bald falſch als das Göttliche verneinend Angenom¬
menes. So lange man in dem Wiſſen ſo kindiſch verfuhr,
dem poſitiven Princip des Göttlichen eben ſo ein poſitives
Princip des Teufliſchen gegenüber zu ſtellen, wie etwa in der
Kindheit der Phyſik man noch von einem beſondern Princip
der Kälte, gegenüber dem Princip der Wärme, handeln konnte,
ſo lange hätte man von dem Haſſe ſagen dürfen: er müſſe
von Haus aus allen Formen des Böſen, und im höchſten
Grade dem Teufel zugewendet ſein; — indeß derlei Unſinn
zerſtäubt im Lichte einer höhern philoſophiſchen Erkenntniß
und bedarf ſonach hier keiner weitern Beachtung; es geht
vielmehr aus dem Obigen und aus allen frühern Betrach¬
tungen hervor, daß der Haß überhaupt kein eigentliches
individuelles oder irgend perſönliches Object haben könne,
ſondern daß ſein angemeſſenes Object in Wahrheit nur ſein

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[315/0331] 4. Geſchichte des Haſſes. Wenn uns die vorhergehenden Betrachtungen dahin geführt haben, das Liebesgefühl anzuerkennen als „die ein¬ geborne Sehnſucht der Idee nach Vervollſtändigung und Vollendung“, ſo können wir nun das Gefühl des Haſſes eben ſo entſchieden bezeichnen als das eingeborne Wider¬ ſtreben der Idee gegen alles jener Sehnſucht nach Vollendung entſchieden Ungemäße und ſich ihr Ent¬ gegenſetzende. Die Liebe nannten wir daher ein poſitiv actives Gefühl, den Haß müſſen wir als ein negativ actives bezeichnen, und zwar als ein negatives in verſchiedener Beziehung, einmal in wie fern es dieſes Ungemäße und Hindernde entſchieden negirt, ein andermal aber auch in wie fern ſelbſt ſein Object ein negatives iſt. Nicht, wie in der Liebe nämlich, welche bloß nach dem allein Poſitiven, dem Göttlichen, und zwar in allen ſeinen verſchiedenen, bald recht, bald falſch erkannten Formen ſtrebt, iſt das, was hier angeſtrebt wird, ein Poſitives, ſondern ſelbſt das, was verneint wird, iſt ein Verneinendes, nämlich ein bald wahr, bald falſch als das Göttliche verneinend Angenom¬ menes. So lange man in dem Wiſſen ſo kindiſch verfuhr, dem poſitiven Princip des Göttlichen eben ſo ein poſitives Princip des Teufliſchen gegenüber zu ſtellen, wie etwa in der Kindheit der Phyſik man noch von einem beſondern Princip der Kälte, gegenüber dem Princip der Wärme, handeln konnte, ſo lange hätte man von dem Haſſe ſagen dürfen: er müſſe von Haus aus allen Formen des Böſen, und im höchſten Grade dem Teufel zugewendet ſein; — indeß derlei Unſinn zerſtäubt im Lichte einer höhern philoſophiſchen Erkenntniß und bedarf ſonach hier keiner weitern Beachtung; es geht vielmehr aus dem Obigen und aus allen frühern Betrach¬ tungen hervor, daß der Haß überhaupt kein eigentliches individuelles oder irgend perſönliches Object haben könne, ſondern daß ſein angemeſſenes Object in Wahrheit nur ſein

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/331>, abgerufen am 22.11.2024.