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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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"Irrthum verläßt uns nie, doch führet ein höher Bedürfniß
Immer den strebenden Geist, leise zur Wahrheit hinan,"

Was das Verhältniß der Erkentniß zum
Gefühl
und zum Willen betrifft, so gibt es auch zu sehr
merkwürdigen Betrachtungen Anlaß. Im Allgemeinen pflegt
man das Denken -- die Erkenntniß -- als den Feind und
Zerstörer des Gefühls zu betrachten und dem klar Denken¬
den ein minder lebendiges Gefühl zuzuschreiben; dem ist
aber nicht ganz so. Das Erkennen ist allerdings gewisser¬
maßen wie der Prüfstein aller Dinge, so der des Gefühls,
und in so fern alle dem sehr gefährlich, was wir Schein¬
bilder des Gefühls und negative Gefühle genannt haben.
Bei der Geschichte der Gefühle ist darauf aufmerksam ge¬
macht worden, daß Trauer und Haß im höchsten Sinne
unvereinbar zu nennen sind mit dem Gewahrwerden der
Welt als der stätigen Offenbarung eines Göttlichen, und
da uns nun eben durch das Denken die Erkenntniß des
Göttlichen allein aufgehen kann, weil uns eben nur dieses
Dritte zum Verständniß des Verhältnisses zwischen Idee
und Erscheinung verhilft, so wird, je tiefer die Erkennt¬
niß in das Wesen der Dinge eindringt, um so mehr der
Grund zu Haß und Trauer schwinden, und um so allge¬
meiner Freudigkeit und Liebe aufgehen. Dabei ist nun
ferner wohl zuzugeben, daß das Denken selbst durch sein
-- wenn ich einen platonischen Ausdruck hier anwenden
darf -- farb- und stoffloses Sein -- durch seine in sich
indifferente Wesenheit -- einerseits etwas an der Heftigkeit
des besondern Gefühles mildern und dasselbe mehr gegen
das, was wir den Zenith der Gefühlswelt genannt haben,
gegen jenes höhere in sich Ruhen des Gefühls hindrängen
muß, dagegen ist aber auch andererseits nicht zu verkennen,
daß da, wo die Erkenntniß selbst erst die Größe und Schön¬
heit dessen, was das Gefühl bewegt aufschließt, die Macht
des Gefühles selbst auch wieder wesentlich durch die Erkennt¬
niß gefördert wird, wie denn eben die höchste Form der

„Irrthum verläßt uns nie, doch führet ein höher Bedürfniß
Immer den ſtrebenden Geiſt, leiſe zur Wahrheit hinan,“

Was das Verhältniß der Erkentniß zum
Gefühl
und zum Willen betrifft, ſo gibt es auch zu ſehr
merkwürdigen Betrachtungen Anlaß. Im Allgemeinen pflegt
man das Denken — die Erkenntniß — als den Feind und
Zerſtörer des Gefühls zu betrachten und dem klar Denken¬
den ein minder lebendiges Gefühl zuzuſchreiben; dem iſt
aber nicht ganz ſo. Das Erkennen iſt allerdings gewiſſer¬
maßen wie der Prüfſtein aller Dinge, ſo der des Gefühls,
und in ſo fern alle dem ſehr gefährlich, was wir Schein¬
bilder des Gefühls und negative Gefühle genannt haben.
Bei der Geſchichte der Gefühle iſt darauf aufmerkſam ge¬
macht worden, daß Trauer und Haß im höchſten Sinne
unvereinbar zu nennen ſind mit dem Gewahrwerden der
Welt als der ſtätigen Offenbarung eines Göttlichen, und
da uns nun eben durch das Denken die Erkenntniß des
Göttlichen allein aufgehen kann, weil uns eben nur dieſes
Dritte zum Verſtändniß des Verhältniſſes zwiſchen Idee
und Erſcheinung verhilft, ſo wird, je tiefer die Erkennt¬
niß in das Weſen der Dinge eindringt, um ſo mehr der
Grund zu Haß und Trauer ſchwinden, und um ſo allge¬
meiner Freudigkeit und Liebe aufgehen. Dabei iſt nun
ferner wohl zuzugeben, daß das Denken ſelbſt durch ſein
— wenn ich einen platoniſchen Ausdruck hier anwenden
darf — farb- und ſtoffloſes Sein — durch ſeine in ſich
indifferente Weſenheit — einerſeits etwas an der Heftigkeit
des beſondern Gefühles mildern und daſſelbe mehr gegen
das, was wir den Zenith der Gefühlswelt genannt haben,
gegen jenes höhere in ſich Ruhen des Gefühls hindrängen
muß, dagegen iſt aber auch andererſeits nicht zu verkennen,
daß da, wo die Erkenntniß ſelbſt erſt die Größe und Schön¬
heit deſſen, was das Gefühl bewegt aufſchließt, die Macht
des Gefühles ſelbſt auch wieder weſentlich durch die Erkennt¬
niß gefördert wird, wie denn eben die höchſte Form der

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[342/0358] „Irrthum verläßt uns nie, doch führet ein höher Bedürfniß Immer den ſtrebenden Geiſt, leiſe zur Wahrheit hinan,“ Was das Verhältniß der Erkentniß zum Gefühl und zum Willen betrifft, ſo gibt es auch zu ſehr merkwürdigen Betrachtungen Anlaß. Im Allgemeinen pflegt man das Denken — die Erkenntniß — als den Feind und Zerſtörer des Gefühls zu betrachten und dem klar Denken¬ den ein minder lebendiges Gefühl zuzuſchreiben; dem iſt aber nicht ganz ſo. Das Erkennen iſt allerdings gewiſſer¬ maßen wie der Prüfſtein aller Dinge, ſo der des Gefühls, und in ſo fern alle dem ſehr gefährlich, was wir Schein¬ bilder des Gefühls und negative Gefühle genannt haben. Bei der Geſchichte der Gefühle iſt darauf aufmerkſam ge¬ macht worden, daß Trauer und Haß im höchſten Sinne unvereinbar zu nennen ſind mit dem Gewahrwerden der Welt als der ſtätigen Offenbarung eines Göttlichen, und da uns nun eben durch das Denken die Erkenntniß des Göttlichen allein aufgehen kann, weil uns eben nur dieſes Dritte zum Verſtändniß des Verhältniſſes zwiſchen Idee und Erſcheinung verhilft, ſo wird, je tiefer die Erkennt¬ niß in das Weſen der Dinge eindringt, um ſo mehr der Grund zu Haß und Trauer ſchwinden, und um ſo allge¬ meiner Freudigkeit und Liebe aufgehen. Dabei iſt nun ferner wohl zuzugeben, daß das Denken ſelbſt durch ſein — wenn ich einen platoniſchen Ausdruck hier anwenden darf — farb- und ſtoffloſes Sein — durch ſeine in ſich indifferente Weſenheit — einerſeits etwas an der Heftigkeit des beſondern Gefühles mildern und daſſelbe mehr gegen das, was wir den Zenith der Gefühlswelt genannt haben, gegen jenes höhere in ſich Ruhen des Gefühls hindrängen muß, dagegen iſt aber auch andererſeits nicht zu verkennen, daß da, wo die Erkenntniß ſelbſt erſt die Größe und Schön¬ heit deſſen, was das Gefühl bewegt aufſchließt, die Macht des Gefühles ſelbſt auch wieder weſentlich durch die Erkennt¬ niß gefördert wird, wie denn eben die höchſte Form der

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/358>, abgerufen am 22.11.2024.