selbsteigenen Daseins zu gelangen, und dies nennen wir das "Suchen der Seele nach Gott." Dieses Suchen, dieses Sehnen, diese Sehnsucht, geht als ein Grundton durch die ganze Geschichte der zum Bewußtsein gekommenen Menschheit, und der Geist des Menschen erkennt in seiner eigensten Tiefe, daß, wie theils das Gelangen zum ersten Gedanken und zur Selbsterkenntniß, und theils das Ver¬ ständniß und vollständigste Erkennen einer nächst verwandten Seele in der Liebe, die beiden ersten Bedingungen sind zur Befriedigung eines uns tief eingebornen Bedürfnisses, so endlich das Erfassen und möglichste Durchdringen des ewigen göttlichen Mysteriums, die dritte und höchste Bedingung vollkommner Befriedigung unsers Daseins allein gewähren kann. -- Hier aber treten jedoch die wunderbarsten Ver¬ hältnisse hervor; -- wie das Sehnen nach vollkommenster Selbsterkenntniß ein tiefes und unermeßliches genannt werden kann, und wie das Sehnen nach der vollen Genüge des liebenden Erkennens auch durch viele Stufen hindurchgehen muß und doch eine in aller Beziehung vollständige Befriedigung nie erhalten wird, so ist nun auch dieses Sehnen, dieses Suchen nach Gott, nicht nur an die mannich¬ faltigsten Stufen der Entwicklung geknüpft und durch die verschiedensten sich zwischenstellenden Scheinbilder erschwert, sondern zugleich seinem Wesen nach überhaupt unergründ¬ lich und unendlich. Fassen wir es mit einem Wort, so ist auch in dieser Beziehung an die Anfangsworte dieser Blätter zu erinnern: "der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußt¬ seins." -- Das Unergründliche und eigentlich Unerreichbare des Sehnens nach Gott liegt nämlich darin, daß es hier im wahrhaftesten Sinne zur Aufgabe des denkenden Geistes wird: das Höchste des bewußten Geistes in der tiefsten Tiefe einesfür unsUnbewußten rein untergehen oder vielmehr aufgehen zu lassen. Wir dürfen es nämlich geradezu aussprechen: das höchste
Carus, Psyche. 26
ſelbſteigenen Daſeins zu gelangen, und dies nennen wir das „Suchen der Seele nach Gott.“ Dieſes Suchen, dieſes Sehnen, dieſe Sehnſucht, geht als ein Grundton durch die ganze Geſchichte der zum Bewußtſein gekommenen Menſchheit, und der Geiſt des Menſchen erkennt in ſeiner eigenſten Tiefe, daß, wie theils das Gelangen zum erſten Gedanken und zur Selbſterkenntniß, und theils das Ver¬ ſtändniß und vollſtändigſte Erkennen einer nächſt verwandten Seele in der Liebe, die beiden erſten Bedingungen ſind zur Befriedigung eines uns tief eingebornen Bedürfniſſes, ſo endlich das Erfaſſen und möglichſte Durchdringen des ewigen göttlichen Myſteriums, die dritte und höchſte Bedingung vollkommner Befriedigung unſers Daſeins allein gewähren kann. — Hier aber treten jedoch die wunderbarſten Ver¬ hältniſſe hervor; — wie das Sehnen nach vollkommenſter Selbſterkenntniß ein tiefes und unermeßliches genannt werden kann, und wie das Sehnen nach der vollen Genüge des liebenden Erkennens auch durch viele Stufen hindurchgehen muß und doch eine in aller Beziehung vollſtändige Befriedigung nie erhalten wird, ſo iſt nun auch dieſes Sehnen, dieſes Suchen nach Gott, nicht nur an die mannich¬ faltigſten Stufen der Entwicklung geknüpft und durch die verſchiedenſten ſich zwiſchenſtellenden Scheinbilder erſchwert, ſondern zugleich ſeinem Weſen nach überhaupt unergründ¬ lich und unendlich. Faſſen wir es mit einem Wort, ſo iſt auch in dieſer Beziehung an die Anfangsworte dieſer Blätter zu erinnern: „der Schlüſſel zur Erkenntniß vom Weſen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußt¬ ſeins.“ — Das Unergründliche und eigentlich Unerreichbare des Sehnens nach Gott liegt nämlich darin, daß es hier im wahrhafteſten Sinne zur Aufgabe des denkenden Geiſtes wird: das Höchſte des bewußten Geiſtes in der tiefſten Tiefe einesfür unsUnbewußten rein untergehen oder vielmehr aufgehen zu laſſen. Wir dürfen es nämlich geradezu ausſprechen: das höchſte
Carus, Pſyche. 26
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ſelbſteigenen Daſeins zu gelangen, und dies nennen wir
das „Suchen der Seele nach Gott.“ Dieſes Suchen,
dieſes Sehnen, dieſe Sehnſucht, geht als ein Grundton
durch die ganze Geſchichte der zum Bewußtſein gekommenen
Menſchheit, und der Geiſt des Menſchen erkennt in ſeiner
eigenſten Tiefe, daß, wie theils das Gelangen zum erſten
Gedanken und zur Selbſterkenntniß, und theils das Ver¬
ſtändniß und vollſtändigſte Erkennen einer nächſt verwandten
Seele in der Liebe, die beiden erſten Bedingungen ſind zur
Befriedigung eines uns tief eingebornen Bedürfniſſes, ſo
endlich das Erfaſſen und möglichſte Durchdringen des ewigen
göttlichen Myſteriums, die dritte und höchſte Bedingung
vollkommner Befriedigung unſers Daſeins allein gewähren
kann. — Hier aber treten jedoch die wunderbarſten Ver¬
hältniſſe hervor; — wie das Sehnen nach vollkommenſter
Selbſterkenntniß ein tiefes und unermeßliches genannt werden
kann, und wie das Sehnen nach der vollen Genüge des
liebenden Erkennens auch durch viele Stufen hindurchgehen
muß und doch eine in aller Beziehung vollſtändige
Befriedigung nie erhalten wird, ſo iſt nun auch dieſes
Sehnen, dieſes Suchen nach Gott, nicht nur an die mannich¬
faltigſten Stufen der Entwicklung geknüpft und durch die
verſchiedenſten ſich zwiſchenſtellenden Scheinbilder erſchwert,
ſondern zugleich ſeinem Weſen nach überhaupt unergründ¬
lich und unendlich. Faſſen wir es mit einem Wort, ſo iſt
auch in dieſer Beziehung an die Anfangsworte dieſer Blätter
zu erinnern: „der Schlüſſel zur Erkenntniß vom Weſen des
bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußt¬
ſeins.“ — Das Unergründliche und eigentlich Unerreichbare
des Sehnens nach Gott liegt nämlich darin, daß es hier
im wahrhafteſten Sinne zur Aufgabe des denkenden Geiſtes
wird: das Höchſte des bewußten Geiſtes in der
tiefſten Tiefe eines für uns Unbewußten rein
untergehen oder vielmehr aufgehen zu laſſen.
Wir dürfen es nämlich geradezu ausſprechen: das höchſte
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/417>, abgerufen am 22.11.2024.
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