hört auch eine gewisse höhere Reife dazu, wenn sie gelingen soll. Jeder Mensch durchgeht daher in sich, so zu sagen, die Geschichte der Menschheit auch in dieser wie in so viel anderer Beziehung; erst spät und nur im Falle einer wirk¬ lich erreichten Reife, gibt er die Scheinbilder auf, in wel¬ chen sich ihm anfänglich dieses Unendliche zusammendrängte, und wagt es klarer und fester auf ein an sich Unendliches zu blicken, eine Vorstellung, welche ihm leichtlich zuerst gleich einer unabsehlichen Wüste als ein Grauenhaftes, mehr Schreckendes als Erhebendes erscheinen wird. Eine große eigene Erhebung der Seele muß sonach hinzutreten, wenn dieses Dunkel sich erhellen, wenn das Gefühl noth¬ wendiger unbedingter Hingebung an dieses höchste Gött¬ liche ihr nicht furchtbar, und alles eigene Dasein, alles Ruhen auf sich selbst, zerstörend erscheinen soll. Allerdings aber je reifer und größer in sich der Geist wird, je mehr eine weite und umsichtige Erkenntniß der Welt ihn erleuch¬ tet, um so näher tritt ihm dieses Mysterium, um so mehr erfüllt ihn die Hoheit der alles Unbewußte durchdringenden und bestimmenden Vernunft, die Schönheit aller reinen Offenbarung jenes ewigen Geheimnisses mit Freudigkeit und Verehrung, und um so mehr kann ihm das eine Quelle von Seeligkeit werden, was zuerst eine trostlose Wüste schien. Bei alle dem, wie möchte die Erkenntniß allein ausreichen jene unbedingte Hingebung an ein doch nie ganz zu Erkennendes möglich werden zu lassen, welche wir als die höchste That der menschlichen Seele bezeichnet haben, träte nicht hier das zweite hinzu -- der Reichthum und die Fülle der Liebe. Erschlossen muß sie also sein diese Macht der Liebe in der Seele, durchgebildet muß sie sein durch ihre verschiedenen Stufen, deren die höhere immer die vorausgehenden mit einschließt, erwacht muß er sein dieser sehnsüchtige Zug, welcher den Geist vom egoistischen Ruhen auf sich selbst herausdrängt und ihn mit einer noch höhern Macht zu seinem und dem Urquell alles Dessen,
hört auch eine gewiſſe höhere Reife dazu, wenn ſie gelingen ſoll. Jeder Menſch durchgeht daher in ſich, ſo zu ſagen, die Geſchichte der Menſchheit auch in dieſer wie in ſo viel anderer Beziehung; erſt ſpät und nur im Falle einer wirk¬ lich erreichten Reife, gibt er die Scheinbilder auf, in wel¬ chen ſich ihm anfänglich dieſes Unendliche zuſammendrängte, und wagt es klarer und feſter auf ein an ſich Unendliches zu blicken, eine Vorſtellung, welche ihm leichtlich zuerſt gleich einer unabſehlichen Wüſte als ein Grauenhaftes, mehr Schreckendes als Erhebendes erſcheinen wird. Eine große eigene Erhebung der Seele muß ſonach hinzutreten, wenn dieſes Dunkel ſich erhellen, wenn das Gefühl noth¬ wendiger unbedingter Hingebung an dieſes höchſte Gött¬ liche ihr nicht furchtbar, und alles eigene Daſein, alles Ruhen auf ſich ſelbſt, zerſtörend erſcheinen ſoll. Allerdings aber je reifer und größer in ſich der Geiſt wird, je mehr eine weite und umſichtige Erkenntniß der Welt ihn erleuch¬ tet, um ſo näher tritt ihm dieſes Myſterium, um ſo mehr erfüllt ihn die Hoheit der alles Unbewußte durchdringenden und beſtimmenden Vernunft, die Schönheit aller reinen Offenbarung jenes ewigen Geheimniſſes mit Freudigkeit und Verehrung, und um ſo mehr kann ihm das eine Quelle von Seeligkeit werden, was zuerſt eine troſtloſe Wüſte ſchien. Bei alle dem, wie möchte die Erkenntniß allein ausreichen jene unbedingte Hingebung an ein doch nie ganz zu Erkennendes möglich werden zu laſſen, welche wir als die höchſte That der menſchlichen Seele bezeichnet haben, träte nicht hier das zweite hinzu — der Reichthum und die Fülle der Liebe. Erſchloſſen muß ſie alſo ſein dieſe Macht der Liebe in der Seele, durchgebildet muß ſie ſein durch ihre verſchiedenen Stufen, deren die höhere immer die vorausgehenden mit einſchließt, erwacht muß er ſein dieſer ſehnſüchtige Zug, welcher den Geiſt vom egoiſtiſchen Ruhen auf ſich ſelbſt herausdrängt und ihn mit einer noch höhern Macht zu ſeinem und dem Urquell alles Deſſen,
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hört auch eine gewiſſe höhere Reife dazu, wenn ſie gelingen
ſoll. Jeder Menſch durchgeht daher in ſich, ſo zu ſagen,
die Geſchichte der Menſchheit auch in dieſer wie in ſo viel
anderer Beziehung; erſt ſpät und nur im Falle einer wirk¬
lich erreichten Reife, gibt er die Scheinbilder auf, in wel¬
chen ſich ihm anfänglich dieſes Unendliche zuſammendrängte,
und wagt es klarer und feſter auf ein an ſich Unendliches
zu blicken, eine Vorſtellung, welche ihm leichtlich zuerſt
gleich einer unabſehlichen Wüſte als ein Grauenhaftes,
mehr Schreckendes als Erhebendes erſcheinen wird. Eine
große eigene Erhebung der Seele muß ſonach hinzutreten,
wenn dieſes Dunkel ſich erhellen, wenn das Gefühl noth¬
wendiger unbedingter Hingebung an dieſes höchſte Gött¬
liche ihr nicht furchtbar, und alles eigene Daſein, alles
Ruhen auf ſich ſelbſt, zerſtörend erſcheinen ſoll. Allerdings
aber je reifer und größer in ſich der Geiſt wird, je mehr
eine weite und umſichtige Erkenntniß der Welt ihn erleuch¬
tet, um ſo näher tritt ihm dieſes Myſterium, um ſo mehr
erfüllt ihn die Hoheit der alles Unbewußte durchdringenden
und beſtimmenden Vernunft, die Schönheit aller reinen
Offenbarung jenes ewigen Geheimniſſes mit Freudigkeit
und Verehrung, und um ſo mehr kann ihm das eine
Quelle von Seeligkeit werden, was zuerſt eine troſtloſe
Wüſte ſchien. Bei alle dem, wie möchte die Erkenntniß
allein ausreichen jene unbedingte Hingebung an ein doch
nie ganz zu Erkennendes möglich werden zu laſſen, welche
wir als die höchſte That der menſchlichen Seele bezeichnet
haben, träte nicht hier das zweite hinzu — der Reichthum
und die Fülle der Liebe. Erſchloſſen muß ſie alſo ſein dieſe
Macht der Liebe in der Seele, durchgebildet muß ſie ſein
durch ihre verſchiedenen Stufen, deren die höhere immer
die vorausgehenden mit einſchließt, erwacht muß er ſein
dieſer ſehnſüchtige Zug, welcher den Geiſt vom egoiſtiſchen
Ruhen auf ſich ſelbſt herausdrängt und ihn mit einer noch
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/423>, abgerufen am 22.11.2024.
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