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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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der eigentlichen, oder sogenannten leiblichen
Krankheiten
, und dieses Reich theilt sich nach folgenden
drei Grundformen: Die erste umfaßt das zahlreiche
Heer der "Fieber". Hier sehen wir gleichsam die Ur¬
krankheit
, welche die großen welthistorischen Epidemien
darstellt, die welche über alle andere Krankheitsformen sich
verbreiten kann und aus welcher so viele andere hervor¬
gehen. Die zweite umfaßt die verschiedenen Formen der
"Entzündung" (die Secundärkrankheit, welche den
allgemeinen Fieberproceß im beschränkten Organ wiederholt)
und die dritte stellt dar die "Verbildung" (die Tertiär¬
krankheit
, welche erst später zu den vorigen hinzuzutreten
pflegt und meist bleibend die Gestaltung des Organismus
verändert). In allen diesen Krankheiten erscheint also eine
gewisse besondere dem Eigenleben des Organismus fremde
Idee und lebt sich parasitisch dar, und zwar allemal wesent¬
lich an der Erscheinung der unbewußten Seele, sei es nun,
daß überhaupt der bewußte Geist sich noch nicht entwickelt hat
(wie im Fötus) oder daß er bereits wirklich erschlossen sei
(wie im Erwachsenen). In Folge der Eigenthümlichkeit einer
solchen besondern Idee und je nach Besonderheit derselben,
wird Alles was unbewußt sonst die Seele nach ihrem eigenen
innern Gesetz regelt, nun anderweitig und auf neue besondere
Weise bestimmt; Athmung, Blutumlauf, Verdauung, Ernäh¬
rung u. s. w. gehen nicht mehr wie sonst von Statten, son¬
dern an ihren vielfältigen oft sehr seltsamen Modificationen
bringt sich jetzt eben die fremdartige neue Idee zur Erschei¬
nung, und vollendet an ihnen ihren Lebenkreis, so daß
erst, wenn sie diesen durchlaufen und beschlossen hat, das
Eigenleben der eingeborenen Idee durch die gewohnten frü¬
hern Erscheinungsweisen abermals sich kund geben kann.

Es ist jedenfalls wichtig, daß man zuerst von diesen
wesentlich im Unbewußten sich offenbarenden Krankheits¬
formen, welche in ihrer unermeßlichen Mannichfaltigkeit
das Hauptstudium des Arztes abgeben, mindestens einen

Carus, Psyche. 28

der eigentlichen, oder ſogenannten leiblichen
Krankheiten
, und dieſes Reich theilt ſich nach folgenden
drei Grundformen: Die erſte umfaßt das zahlreiche
Heer der „Fieber“. Hier ſehen wir gleichſam die Ur¬
krankheit
, welche die großen welthiſtoriſchen Epidemien
darſtellt, die welche über alle andere Krankheitsformen ſich
verbreiten kann und aus welcher ſo viele andere hervor¬
gehen. Die zweite umfaßt die verſchiedenen Formen der
Entzündung“ (die Secundärkrankheit, welche den
allgemeinen Fieberproceß im beſchränkten Organ wiederholt)
und die dritte ſtellt dar die „Verbildung“ (die Tertiär¬
krankheit
, welche erſt ſpäter zu den vorigen hinzuzutreten
pflegt und meiſt bleibend die Geſtaltung des Organismus
verändert). In allen dieſen Krankheiten erſcheint alſo eine
gewiſſe beſondere dem Eigenleben des Organismus fremde
Idee und lebt ſich paraſitiſch dar, und zwar allemal weſent¬
lich an der Erſcheinung der unbewußten Seele, ſei es nun,
daß überhaupt der bewußte Geiſt ſich noch nicht entwickelt hat
(wie im Fötus) oder daß er bereits wirklich erſchloſſen ſei
(wie im Erwachſenen). In Folge der Eigenthümlichkeit einer
ſolchen beſondern Idee und je nach Beſonderheit derſelben,
wird Alles was unbewußt ſonſt die Seele nach ihrem eigenen
innern Geſetz regelt, nun anderweitig und auf neue beſondere
Weiſe beſtimmt; Athmung, Blutumlauf, Verdauung, Ernäh¬
rung u. ſ. w. gehen nicht mehr wie ſonſt von Statten, ſon¬
dern an ihren vielfältigen oft ſehr ſeltſamen Modificationen
bringt ſich jetzt eben die fremdartige neue Idee zur Erſchei¬
nung, und vollendet an ihnen ihren Lebenkreis, ſo daß
erſt, wenn ſie dieſen durchlaufen und beſchloſſen hat, das
Eigenleben der eingeborenen Idee durch die gewohnten frü¬
hern Erſcheinungsweiſen abermals ſich kund geben kann.

Es iſt jedenfalls wichtig, daß man zuerſt von dieſen
weſentlich im Unbewußten ſich offenbarenden Krankheits¬
formen, welche in ihrer unermeßlichen Mannichfaltigkeit
das Hauptſtudium des Arztes abgeben, mindeſtens einen

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[433/0449] der eigentlichen, oder ſogenannten leiblichen Krankheiten, und dieſes Reich theilt ſich nach folgenden drei Grundformen: Die erſte umfaßt das zahlreiche Heer der „Fieber“. Hier ſehen wir gleichſam die Ur¬ krankheit, welche die großen welthiſtoriſchen Epidemien darſtellt, die welche über alle andere Krankheitsformen ſich verbreiten kann und aus welcher ſo viele andere hervor¬ gehen. Die zweite umfaßt die verſchiedenen Formen der „Entzündung“ (die Secundärkrankheit, welche den allgemeinen Fieberproceß im beſchränkten Organ wiederholt) und die dritte ſtellt dar die „Verbildung“ (die Tertiär¬ krankheit, welche erſt ſpäter zu den vorigen hinzuzutreten pflegt und meiſt bleibend die Geſtaltung des Organismus verändert). In allen dieſen Krankheiten erſcheint alſo eine gewiſſe beſondere dem Eigenleben des Organismus fremde Idee und lebt ſich paraſitiſch dar, und zwar allemal weſent¬ lich an der Erſcheinung der unbewußten Seele, ſei es nun, daß überhaupt der bewußte Geiſt ſich noch nicht entwickelt hat (wie im Fötus) oder daß er bereits wirklich erſchloſſen ſei (wie im Erwachſenen). In Folge der Eigenthümlichkeit einer ſolchen beſondern Idee und je nach Beſonderheit derſelben, wird Alles was unbewußt ſonſt die Seele nach ihrem eigenen innern Geſetz regelt, nun anderweitig und auf neue beſondere Weiſe beſtimmt; Athmung, Blutumlauf, Verdauung, Ernäh¬ rung u. ſ. w. gehen nicht mehr wie ſonſt von Statten, ſon¬ dern an ihren vielfältigen oft ſehr ſeltſamen Modificationen bringt ſich jetzt eben die fremdartige neue Idee zur Erſchei¬ nung, und vollendet an ihnen ihren Lebenkreis, ſo daß erſt, wenn ſie dieſen durchlaufen und beſchloſſen hat, das Eigenleben der eingeborenen Idee durch die gewohnten frü¬ hern Erſcheinungsweiſen abermals ſich kund geben kann. Es iſt jedenfalls wichtig, daß man zuerſt von dieſen weſentlich im Unbewußten ſich offenbarenden Krankheits¬ formen, welche in ihrer unermeßlichen Mannichfaltigkeit das Hauptſtudium des Arztes abgeben, mindeſtens einen Carus, Pſyche. 28

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/449>, abgerufen am 22.11.2024.