Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Physiologus.
eines Sinnes für die Natur und deren Bewegungserscheinungen nach-
weisbar. Bei dem Widerstand, welchen die ersten christlichen Regungen
allen aus dem Heidenthum herrührenden Schriften entgegensetzten, war
es daher für die Stellung der Naturgeschichte, als eines Bildungsmo-
ments, zur ganzen geistigen Entwickelung von außerordentlicher Bedeu-
tung, daß eine Form der Darstellung gefunden wurde, in welcher der
Natursinn unbeschadet der kirchlichen Autorität wachgehalten wurde.

Diese bot der Physiologus dar7). Für seine Bedeutung spricht
schon seine große Verbreitung. Er ist nicht bloß in den alten Cultur-
sprachen vorhanden, sondern er erscheint überall, wo die sich absondern-
den Nationalitäten in den Kreis der christlichen Cultur eintreten oder
wo das Christenthum mit seiner symbolisirenden Lehrhaftigkeit eindringt.
Er findet sich mehr oder weniger vollständig erhalten und zwar in
seiner ursprünglichen Gestalt prosaisch oder, im Ganzen oder in Aus-
zügen, metrisch in folgenden Sprachen: griechisch, lateinisch, syrisch,
armenisch, arabisch, äthiopisch, althochdeutsch, angelsächsisch, altenglisch,
isländisch, provencalisch und altfranzösisch. Mit dem vierzehnten Jahr-
hundert verschwindet er; denn wenn auch noch einzelne sogenannte Phy-
siologen später vorkommen und wenn gewisse litterarische Erscheinungen
des dreizehnten Jahrhunderts und der diesem zunächst folgenden Zeit in
eine gewisse verwandtschaftliche Beziehung zu ihm gebracht werden

7) Eine äußerst sorgfältige Bearbeitung der frühesten Geschichte des Physiolo-
gus mit Berücksichtigung der wichtigsten Fragen, jedoch mit Ausschluß der natur-
historischen hat Pitra gegeben in: Spicilegium Solesmense. Tom. III. p.
XLVII-LXXX.
Eingehend ist die Einleitung von C. Hippeau in seiner Aus-
gabe des Bestiaire divin. (s. u.). Eine anziehend geschriebene Schilderung der
historischen Stellung des Physiologus, welche sich vorzüglich an Pitra und die noch
zu erwähnende Arbeit von Cahier anlehnt, enthält der Aufsatz von Kolloff,
die sagenhafte und symbolische Thiergeschichte des Mittelalters in F. v. Raumer's
histor. Taschenb. 4. Folge, 8. Bd. 1867. S. 171-269. Vergl. auch den kurzen
aber sehr hübschen Aufsatz von Thierfelder, eine Handschrift des Physiologus
Theobaldi
beschrieben und mit einer Abhandlung über die sogenannten Physiolo-
gen u. s. w. in: Serapeum von Naumann, 1862. Nr. 15 u. 16. S. 225-231.
241-249. Mehrere der betreffenden litterarischen Nachweisungen verdanke ich der
Gefälligkeit des Herrn Dr. Hügel, welcher mit einer Geschichte des Physiologus be-
schäftigt ist.

Phyſiologus.
eines Sinnes für die Natur und deren Bewegungserſcheinungen nach-
weisbar. Bei dem Widerſtand, welchen die erſten chriſtlichen Regungen
allen aus dem Heidenthum herrührenden Schriften entgegenſetzten, war
es daher für die Stellung der Naturgeſchichte, als eines Bildungsmo-
ments, zur ganzen geiſtigen Entwickelung von außerordentlicher Bedeu-
tung, daß eine Form der Darſtellung gefunden wurde, in welcher der
Naturſinn unbeſchadet der kirchlichen Autorität wachgehalten wurde.

Dieſe bot der Phyſiologus dar7). Für ſeine Bedeutung ſpricht
ſchon ſeine große Verbreitung. Er iſt nicht bloß in den alten Cultur-
ſprachen vorhanden, ſondern er erſcheint überall, wo die ſich abſondern-
den Nationalitäten in den Kreis der chriſtlichen Cultur eintreten oder
wo das Chriſtenthum mit ſeiner ſymboliſirenden Lehrhaftigkeit eindringt.
Er findet ſich mehr oder weniger vollſtändig erhalten und zwar in
ſeiner urſprünglichen Geſtalt proſaiſch oder, im Ganzen oder in Aus-
zügen, metriſch in folgenden Sprachen: griechiſch, lateiniſch, ſyriſch,
armeniſch, arabiſch, äthiopiſch, althochdeutſch, angelſächſiſch, altengliſch,
isländiſch, provençaliſch und altfranzöſiſch. Mit dem vierzehnten Jahr-
hundert verſchwindet er; denn wenn auch noch einzelne ſogenannte Phy-
ſiologen ſpäter vorkommen und wenn gewiſſe litterariſche Erſcheinungen
des dreizehnten Jahrhunderts und der dieſem zunächſt folgenden Zeit in
eine gewiſſe verwandtſchaftliche Beziehung zu ihm gebracht werden

7) Eine äußerſt ſorgfältige Bearbeitung der früheſten Geſchichte des Phyſiolo-
gus mit Berückſichtigung der wichtigſten Fragen, jedoch mit Ausſchluß der natur-
hiſtoriſchen hat Pitra gegeben in: Spicilegium Solesmense. Tom. III. p.
XLVII-LXXX.
Eingehend iſt die Einleitung von C. Hippeau in ſeiner Aus-
gabe des Bestiaire divin. (ſ. u.). Eine anziehend geſchriebene Schilderung der
hiſtoriſchen Stellung des Phyſiologus, welche ſich vorzüglich an Pitra und die noch
zu erwähnende Arbeit von Cahier anlehnt, enthält der Aufſatz von Kolloff,
die ſagenhafte und ſymboliſche Thiergeſchichte des Mittelalters in F. v. Raumer's
hiſtor. Taſchenb. 4. Folge, 8. Bd. 1867. S. 171-269. Vergl. auch den kurzen
aber ſehr hübſchen Aufſatz von Thierfelder, eine Handſchrift des Physiologus
Theobaldi
beſchrieben und mit einer Abhandlung über die ſogenannten Phyſiolo-
gen u. ſ. w. in: Serapeum von Naumann, 1862. Nr. 15 u. 16. S. 225-231.
241-249. Mehrere der betreffenden litterariſchen Nachweiſungen verdanke ich der
Gefälligkeit des Herrn Dr. Hügel, welcher mit einer Geſchichte des Phyſiologus be-
ſchäftigt iſt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0120" n="109"/><fw place="top" type="header">Phy&#x017F;iologus.</fw><lb/>
eines Sinnes für die Natur und deren Bewegungser&#x017F;cheinungen nach-<lb/>
weisbar. Bei dem Wider&#x017F;tand, welchen die er&#x017F;ten chri&#x017F;tlichen Regungen<lb/>
allen aus dem Heidenthum herrührenden Schriften entgegen&#x017F;etzten, war<lb/>
es daher für die Stellung der Naturge&#x017F;chichte, als eines Bildungsmo-<lb/>
ments, zur ganzen gei&#x017F;tigen Entwickelung von außerordentlicher Bedeu-<lb/>
tung, daß eine Form der Dar&#x017F;tellung gefunden wurde, in welcher der<lb/>
Natur&#x017F;inn unbe&#x017F;chadet der kirchlichen Autorität wachgehalten wurde.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e bot der Phy&#x017F;iologus dar<note place="foot" n="7)">Eine äußer&#x017F;t &#x017F;orgfältige Bearbeitung der frühe&#x017F;ten Ge&#x017F;chichte des Phy&#x017F;iolo-<lb/>
gus mit Berück&#x017F;ichtigung der wichtig&#x017F;ten Fragen, jedoch mit Aus&#x017F;chluß der natur-<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen hat <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118964577">Pitra</persName></hi> gegeben in: <hi rendition="#aq">Spicilegium Solesmense. Tom. III. p.<lb/>
XLVII-LXXX.</hi> Eingehend i&#x017F;t die Einleitung von <persName ref="http://d-nb.info/gnd/124523587">C. <hi rendition="#g">Hippeau</hi></persName> in &#x017F;einer Aus-<lb/>
gabe des <hi rendition="#aq">Bestiaire divin.</hi> (&#x017F;. u.). Eine anziehend ge&#x017F;chriebene Schilderung der<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen Stellung des Phy&#x017F;iologus, welche &#x017F;ich vorzüglich an <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118964577">Pitra</persName> und die noch<lb/>
zu erwähnende Arbeit von <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/138701709">Cahier</persName></hi> anlehnt, enthält der Auf&#x017F;atz von <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/116329823">Kolloff</persName></hi>,<lb/>
die &#x017F;agenhafte und &#x017F;ymboli&#x017F;che Thierge&#x017F;chichte des Mittelalters in <persName ref="http://d-nb.info/gnd/119059622">F. v. <hi rendition="#g">Raumer</hi></persName>'s<lb/>
hi&#x017F;tor. Ta&#x017F;chenb. 4. Folge, 8. Bd. 1867. S. 171-269. Vergl. auch den kurzen<lb/>
aber &#x017F;ehr hüb&#x017F;chen Auf&#x017F;atz von <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/102811318">Thierfelder</persName></hi>, eine Hand&#x017F;chrift des <hi rendition="#aq">Physiologus<lb/><persName ref="http://d-nb.info/gnd/100968619">Theobald</persName>i</hi> be&#x017F;chrieben und mit einer Abhandlung über die &#x017F;ogenannten Phy&#x017F;iolo-<lb/>
gen u. &#x017F;. w. in: <hi rendition="#g">Serapeum</hi> von <persName ref="http://d-nb.info/gnd/116900377">Naumann</persName>, 1862. Nr. 15 u. 16. S. 225-231.<lb/>
241-249. Mehrere der betreffenden litterari&#x017F;chen Nachwei&#x017F;ungen verdanke ich der<lb/>
Gefälligkeit des Herrn <hi rendition="#aq">Dr.</hi> <persName ref="nognd">Hügel</persName>, welcher mit einer Ge&#x017F;chichte des Phy&#x017F;iologus be-<lb/>
&#x017F;chäftigt i&#x017F;t.</note>. Für &#x017F;eine Bedeutung &#x017F;pricht<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;eine große Verbreitung. Er i&#x017F;t nicht bloß in den alten Cultur-<lb/>
&#x017F;prachen vorhanden, &#x017F;ondern er er&#x017F;cheint überall, wo die &#x017F;ich ab&#x017F;ondern-<lb/>
den Nationalitäten in den Kreis der chri&#x017F;tlichen Cultur eintreten oder<lb/>
wo das Chri&#x017F;tenthum mit &#x017F;einer &#x017F;ymboli&#x017F;irenden Lehrhaftigkeit eindringt.<lb/>
Er findet &#x017F;ich mehr oder weniger voll&#x017F;tändig erhalten und zwar in<lb/>
&#x017F;einer ur&#x017F;prünglichen Ge&#x017F;talt pro&#x017F;ai&#x017F;ch oder, im Ganzen oder in Aus-<lb/>
zügen, metri&#x017F;ch in folgenden Sprachen: griechi&#x017F;ch, lateini&#x017F;ch, &#x017F;yri&#x017F;ch,<lb/>
armeni&#x017F;ch, arabi&#x017F;ch, äthiopi&#x017F;ch, althochdeut&#x017F;ch, angel&#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;ch, altengli&#x017F;ch,<lb/>
isländi&#x017F;ch, provençali&#x017F;ch und altfranzö&#x017F;i&#x017F;ch. Mit dem vierzehnten Jahr-<lb/>
hundert ver&#x017F;chwindet er; denn wenn auch noch einzelne &#x017F;ogenannte Phy-<lb/>
&#x017F;iologen &#x017F;päter vorkommen und wenn gewi&#x017F;&#x017F;e litterari&#x017F;che Er&#x017F;cheinungen<lb/>
des dreizehnten Jahrhunderts und der die&#x017F;em zunäch&#x017F;t folgenden Zeit in<lb/>
eine gewi&#x017F;&#x017F;e verwandt&#x017F;chaftliche Beziehung zu ihm gebracht werden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0120] Phyſiologus. eines Sinnes für die Natur und deren Bewegungserſcheinungen nach- weisbar. Bei dem Widerſtand, welchen die erſten chriſtlichen Regungen allen aus dem Heidenthum herrührenden Schriften entgegenſetzten, war es daher für die Stellung der Naturgeſchichte, als eines Bildungsmo- ments, zur ganzen geiſtigen Entwickelung von außerordentlicher Bedeu- tung, daß eine Form der Darſtellung gefunden wurde, in welcher der Naturſinn unbeſchadet der kirchlichen Autorität wachgehalten wurde. Dieſe bot der Phyſiologus dar 7). Für ſeine Bedeutung ſpricht ſchon ſeine große Verbreitung. Er iſt nicht bloß in den alten Cultur- ſprachen vorhanden, ſondern er erſcheint überall, wo die ſich abſondern- den Nationalitäten in den Kreis der chriſtlichen Cultur eintreten oder wo das Chriſtenthum mit ſeiner ſymboliſirenden Lehrhaftigkeit eindringt. Er findet ſich mehr oder weniger vollſtändig erhalten und zwar in ſeiner urſprünglichen Geſtalt proſaiſch oder, im Ganzen oder in Aus- zügen, metriſch in folgenden Sprachen: griechiſch, lateiniſch, ſyriſch, armeniſch, arabiſch, äthiopiſch, althochdeutſch, angelſächſiſch, altengliſch, isländiſch, provençaliſch und altfranzöſiſch. Mit dem vierzehnten Jahr- hundert verſchwindet er; denn wenn auch noch einzelne ſogenannte Phy- ſiologen ſpäter vorkommen und wenn gewiſſe litterariſche Erſcheinungen des dreizehnten Jahrhunderts und der dieſem zunächſt folgenden Zeit in eine gewiſſe verwandtſchaftliche Beziehung zu ihm gebracht werden 7) Eine äußerſt ſorgfältige Bearbeitung der früheſten Geſchichte des Phyſiolo- gus mit Berückſichtigung der wichtigſten Fragen, jedoch mit Ausſchluß der natur- hiſtoriſchen hat Pitra gegeben in: Spicilegium Solesmense. Tom. III. p. XLVII-LXXX. Eingehend iſt die Einleitung von C. Hippeau in ſeiner Aus- gabe des Bestiaire divin. (ſ. u.). Eine anziehend geſchriebene Schilderung der hiſtoriſchen Stellung des Phyſiologus, welche ſich vorzüglich an Pitra und die noch zu erwähnende Arbeit von Cahier anlehnt, enthält der Aufſatz von Kolloff, die ſagenhafte und ſymboliſche Thiergeſchichte des Mittelalters in F. v. Raumer's hiſtor. Taſchenb. 4. Folge, 8. Bd. 1867. S. 171-269. Vergl. auch den kurzen aber ſehr hübſchen Aufſatz von Thierfelder, eine Handſchrift des Physiologus Theobaldi beſchrieben und mit einer Abhandlung über die ſogenannten Phyſiolo- gen u. ſ. w. in: Serapeum von Naumann, 1862. Nr. 15 u. 16. S. 225-231. 241-249. Mehrere der betreffenden litterariſchen Nachweiſungen verdanke ich der Gefälligkeit des Herrn Dr. Hügel, welcher mit einer Geſchichte des Phyſiologus be- ſchäftigt iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/120
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/120>, abgerufen am 21.05.2024.