erste nothwendige Ursache und die Vielheit der zusammengesetzten Welt tritt der thätige Verstand, eine Emanation Gottes. Aus diesem fließen die Kräfte des physischen Weltsystems in den einzelnen auf einander folgenden Sphären bis zu den Bewegungen an der Oberfläche der im Mittelpunkte des Ganzen ruhenden Erde. Der thätige Verstand "durch- bringt die ganze Welt und alles Niedere daher, alles Irdische wird durch ihn, durch das allgemeine Gesetz der Welt zusammengehalten".
Bei Ibn Sina (Avicenna) löst sich die Materie von Gott ab und wird als zweites Princip das Subject der zufälligen Erscheinungen. "Sie ist der Grund der besondern Dinge, welche nur ein mögliches Dasein haben, oder der Grund der Individuation". Dem entsprechend unterscheidet er auch rückwärts in der erkennenden Seele die sinnliche Form von der übersinnlichen, welche letztere allein den wahren Begriff der Sache gibt. Dabei findet sich dieselbe Vorstellung des thätigen Verstandes, welcher von den himmlischen Sphären bis auf die Erde wirkt, und ebenso die allmähliche Entwickelung unseres Verstandes; nur ist bei ihm der Verstand des Adepten "die erworbene Wissenschaft, welche wir aus unsern allgemein wissenschaftlichen Grundsätzen durch den Beweis ziehen".
Wird schon durch die bei Ibn Sina auftretende Anschauung eine Naturforschung denkbarer als bei den Früheren, welche nur durch eine eigenthümliche Uebertragung metaphysischer Vorstellungen auf physische Grundkräfte dem Zusammenhang der Dinge näher traten, so erhält die philosophische Ansicht bei Ibn Roschd (Averroes) eine Form, welche der modernen Naturanschauung äußerst nahe kommt und sowohl durch ihre Einfachheit als durch ihre Natürlichkeit schon im Mittelalter Aufsehn erregte. Selbstverständlich wurde sie als ketzerisch verrufen und ihr ver- dankt wohl hauptsächlich die mit ihr in enge Verbindung gebrachte Lehre des Aristoteles die gegen dessen physische Schriften erlassenen Verbote. Es kann nicht im Plane der gegenwärtigen Darstellung liegen, das ganze philosophische System dieses selbständigsten Aristotelikers zu schil- dern; es mag hier auf die Arbeit Renan's verwiesen werden79).
erſte nothwendige Urſache und die Vielheit der zuſammengeſetzten Welt tritt der thätige Verſtand, eine Emanation Gottes. Aus dieſem fließen die Kräfte des phyſiſchen Weltſyſtems in den einzelnen auf einander folgenden Sphären bis zu den Bewegungen an der Oberfläche der im Mittelpunkte des Ganzen ruhenden Erde. Der thätige Verſtand „durch- bringt die ganze Welt und alles Niedere daher, alles Irdiſche wird durch ihn, durch das allgemeine Geſetz der Welt zuſammengehalten“.
Bei Ibn Sina (Avicenna) löſt ſich die Materie von Gott ab und wird als zweites Princip das Subject der zufälligen Erſcheinungen. „Sie iſt der Grund der beſondern Dinge, welche nur ein mögliches Daſein haben, oder der Grund der Individuation“. Dem entſprechend unterſcheidet er auch rückwärts in der erkennenden Seele die ſinnliche Form von der überſinnlichen, welche letztere allein den wahren Begriff der Sache gibt. Dabei findet ſich dieſelbe Vorſtellung des thätigen Verſtandes, welcher von den himmliſchen Sphären bis auf die Erde wirkt, und ebenſo die allmähliche Entwickelung unſeres Verſtandes; nur iſt bei ihm der Verſtand des Adepten „die erworbene Wiſſenſchaft, welche wir aus unſern allgemein wiſſenſchaftlichen Grundſätzen durch den Beweis ziehen“.
Wird ſchon durch die bei Ibn Sina auftretende Anſchauung eine Naturforſchung denkbarer als bei den Früheren, welche nur durch eine eigenthümliche Uebertragung metaphyſiſcher Vorſtellungen auf phyſiſche Grundkräfte dem Zuſammenhang der Dinge näher traten, ſo erhält die philoſophiſche Anſicht bei Ibn Roſchd (Averroës) eine Form, welche der modernen Naturanſchauung äußerſt nahe kommt und ſowohl durch ihre Einfachheit als durch ihre Natürlichkeit ſchon im Mittelalter Aufſehn erregte. Selbſtverſtändlich wurde ſie als ketzeriſch verrufen und ihr ver- dankt wohl hauptſächlich die mit ihr in enge Verbindung gebrachte Lehre des Ariſtoteles die gegen deſſen phyſiſche Schriften erlaſſenen Verbote. Es kann nicht im Plane der gegenwärtigen Darſtellung liegen, das ganze philoſophiſche Syſtem dieſes ſelbſtändigſten Ariſtotelikers zu ſchil- dern; es mag hier auf die Arbeit Renan's verwieſen werden79).
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Die Zoologie der Araber.
erſte nothwendige Urſache und die Vielheit der zuſammengeſetzten Welt
tritt der thätige Verſtand, eine Emanation Gottes. Aus dieſem fließen
die Kräfte des phyſiſchen Weltſyſtems in den einzelnen auf einander
folgenden Sphären bis zu den Bewegungen an der Oberfläche der im
Mittelpunkte des Ganzen ruhenden Erde. Der thätige Verſtand „durch-
bringt die ganze Welt und alles Niedere daher, alles Irdiſche wird
durch ihn, durch das allgemeine Geſetz der Welt zuſammengehalten“.
Bei Ibn Sina (Avicenna) löſt ſich die Materie von Gott ab
und wird als zweites Princip das Subject der zufälligen Erſcheinungen.
„Sie iſt der Grund der beſondern Dinge, welche nur ein mögliches
Daſein haben, oder der Grund der Individuation“. Dem entſprechend
unterſcheidet er auch rückwärts in der erkennenden Seele die ſinnliche
Form von der überſinnlichen, welche letztere allein den wahren Begriff
der Sache gibt. Dabei findet ſich dieſelbe Vorſtellung des thätigen
Verſtandes, welcher von den himmliſchen Sphären bis auf die Erde
wirkt, und ebenſo die allmähliche Entwickelung unſeres Verſtandes;
nur iſt bei ihm der Verſtand des Adepten „die erworbene Wiſſenſchaft,
welche wir aus unſern allgemein wiſſenſchaftlichen Grundſätzen durch
den Beweis ziehen“.
Wird ſchon durch die bei Ibn Sina auftretende Anſchauung eine
Naturforſchung denkbarer als bei den Früheren, welche nur durch eine
eigenthümliche Uebertragung metaphyſiſcher Vorſtellungen auf phyſiſche
Grundkräfte dem Zuſammenhang der Dinge näher traten, ſo erhält die
philoſophiſche Anſicht bei Ibn Roſchd (Averroës) eine Form, welche
der modernen Naturanſchauung äußerſt nahe kommt und ſowohl durch
ihre Einfachheit als durch ihre Natürlichkeit ſchon im Mittelalter Aufſehn
erregte. Selbſtverſtändlich wurde ſie als ketzeriſch verrufen und ihr ver-
dankt wohl hauptſächlich die mit ihr in enge Verbindung gebrachte Lehre
des Ariſtoteles die gegen deſſen phyſiſche Schriften erlaſſenen Verbote.
Es kann nicht im Plane der gegenwärtigen Darſtellung liegen, das
ganze philoſophiſche Syſtem dieſes ſelbſtändigſten Ariſtotelikers zu ſchil-
dern; es mag hier auf die Arbeit Renan's verwieſen werden 79).
79) E. Renan, Averroes et l'Averroisme. Paris, 1852.
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/166>, abgerufen am 21.11.2024.
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