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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Die Zoologie des Mittelalters.
Von Wichtigkeit ist hier nur hervorzuheben, daß Ibn Roschd sowohl
Gott als die Materie für ewig erklärt; es wird nichts geschaffen. Zeu-
gung und Entwickelung sind nur Bewegungen. Der bewegende (thätige)
Verstand bringt nur die Theile der Materie in andere Verhältnisse,
wodurch die in ihr liegenden Formen zur Erscheinung kommen. Wie
nun die Form das sich in allen Dingen findende Immaterielle ist, so
ist auch die immaterielle Seele nur eine Form des belebten Körpers;
die Gedanken werden aus der Materie nach bestimmter Ordnung ent-
wickelt. Indem die kreisende Bewegung des Himmels die in der Ma-
terie liegenden Formen zur Erscheinung kommen lassen, löst der erken-
nende Verstand durch Einsicht in die Ursachen der letzteren die Materie
in die in ihr liegenden Formen auf. Sie wird daher nicht mehr als
Schranke der Erkenntniß zu fürchten sein. Man sieht, daß Ibn Roschd
Grundsätze entwickelte, welche wohl, schon ihrer außerordentlichen me-
thodischen Bedeutung wegen, zu einer freieren Auffassung des Lebens
und der belebten Wesen hätten führen können, wenn die Anwendung
derselben auf lebende Formen in größerer Ausdehnung möglich gewesen
wäre.

Das religiöse und nationale Vorurtheil gestattete indessen vor
allem keine anatomischen Untersuchungen, vor denen die Araber gera-
dezu Abscheu hatten80). Die Arbeiten, welche sich auf Thiere bezogen,
hatten daher weniger eine Erweiterung der Kenntnisse von den betref-
fenden Formen, als eine Zusammenfassung alles dessen zum Ziel, was
über die Gestalt, Lebensweise u. s. f. der einzelnen Thiere bereits be-
kannt war, häufig verbunden mit einer Uebersicht des sich an dieselben
knüpfenden mythisch-poetischen, religiösen und historischen Details und
besonders ihrer medicinischen Wirkungen. Wie neben den technisch-me-
tallurgischen Arbeiten vorzüglich die pharmaceutischen Versuche zu den
ersten Anfängen der Chemie führten, so regten die Bestrebungen, den

80) Selbständige Erweiterung hat die Anatomie, selbst die menschliche, bei
den Arabern kaum gefunden. Ihre Quellen waren Aristoteles und Galen. Unter
der Liste selbständiger Werke wird zwar auch eine Anatomie der Flugthiere erwähnt
werden. In welchem Verhältniß aber die nur dem Titel nach bekannte Schrift zu
einer wirklichen Anatomie der Vögel steht, ist nicht zu entscheiden.

Die Zoologie des Mittelalters.
Von Wichtigkeit iſt hier nur hervorzuheben, daß Ibn Roſchd ſowohl
Gott als die Materie für ewig erklärt; es wird nichts geſchaffen. Zeu-
gung und Entwickelung ſind nur Bewegungen. Der bewegende (thätige)
Verſtand bringt nur die Theile der Materie in andere Verhältniſſe,
wodurch die in ihr liegenden Formen zur Erſcheinung kommen. Wie
nun die Form das ſich in allen Dingen findende Immaterielle iſt, ſo
iſt auch die immaterielle Seele nur eine Form des belebten Körpers;
die Gedanken werden aus der Materie nach beſtimmter Ordnung ent-
wickelt. Indem die kreiſende Bewegung des Himmels die in der Ma-
terie liegenden Formen zur Erſcheinung kommen laſſen, löſt der erken-
nende Verſtand durch Einſicht in die Urſachen der letzteren die Materie
in die in ihr liegenden Formen auf. Sie wird daher nicht mehr als
Schranke der Erkenntniß zu fürchten ſein. Man ſieht, daß Ibn Roſchd
Grundſätze entwickelte, welche wohl, ſchon ihrer außerordentlichen me-
thodiſchen Bedeutung wegen, zu einer freieren Auffaſſung des Lebens
und der belebten Weſen hätten führen können, wenn die Anwendung
derſelben auf lebende Formen in größerer Ausdehnung möglich geweſen
wäre.

Das religiöſe und nationale Vorurtheil geſtattete indeſſen vor
allem keine anatomiſchen Unterſuchungen, vor denen die Araber gera-
dezu Abſcheu hatten80). Die Arbeiten, welche ſich auf Thiere bezogen,
hatten daher weniger eine Erweiterung der Kenntniſſe von den betref-
fenden Formen, als eine Zuſammenfaſſung alles deſſen zum Ziel, was
über die Geſtalt, Lebensweiſe u. ſ. f. der einzelnen Thiere bereits be-
kannt war, häufig verbunden mit einer Ueberſicht des ſich an dieſelben
knüpfenden mythiſch-poetiſchen, religiöſen und hiſtoriſchen Details und
beſonders ihrer mediciniſchen Wirkungen. Wie neben den techniſch-me-
tallurgiſchen Arbeiten vorzüglich die pharmaceutiſchen Verſuche zu den
erſten Anfängen der Chemie führten, ſo regten die Beſtrebungen, den

80) Selbſtändige Erweiterung hat die Anatomie, ſelbſt die menſchliche, bei
den Arabern kaum gefunden. Ihre Quellen waren Ariſtoteles und Galen. Unter
der Liſte ſelbſtändiger Werke wird zwar auch eine Anatomie der Flugthiere erwähnt
werden. In welchem Verhältniß aber die nur dem Titel nach bekannte Schrift zu
einer wirklichen Anatomie der Vögel ſteht, iſt nicht zu entſcheiden.
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[156/0167] Die Zoologie des Mittelalters. Von Wichtigkeit iſt hier nur hervorzuheben, daß Ibn Roſchd ſowohl Gott als die Materie für ewig erklärt; es wird nichts geſchaffen. Zeu- gung und Entwickelung ſind nur Bewegungen. Der bewegende (thätige) Verſtand bringt nur die Theile der Materie in andere Verhältniſſe, wodurch die in ihr liegenden Formen zur Erſcheinung kommen. Wie nun die Form das ſich in allen Dingen findende Immaterielle iſt, ſo iſt auch die immaterielle Seele nur eine Form des belebten Körpers; die Gedanken werden aus der Materie nach beſtimmter Ordnung ent- wickelt. Indem die kreiſende Bewegung des Himmels die in der Ma- terie liegenden Formen zur Erſcheinung kommen laſſen, löſt der erken- nende Verſtand durch Einſicht in die Urſachen der letzteren die Materie in die in ihr liegenden Formen auf. Sie wird daher nicht mehr als Schranke der Erkenntniß zu fürchten ſein. Man ſieht, daß Ibn Roſchd Grundſätze entwickelte, welche wohl, ſchon ihrer außerordentlichen me- thodiſchen Bedeutung wegen, zu einer freieren Auffaſſung des Lebens und der belebten Weſen hätten führen können, wenn die Anwendung derſelben auf lebende Formen in größerer Ausdehnung möglich geweſen wäre. Das religiöſe und nationale Vorurtheil geſtattete indeſſen vor allem keine anatomiſchen Unterſuchungen, vor denen die Araber gera- dezu Abſcheu hatten 80). Die Arbeiten, welche ſich auf Thiere bezogen, hatten daher weniger eine Erweiterung der Kenntniſſe von den betref- fenden Formen, als eine Zuſammenfaſſung alles deſſen zum Ziel, was über die Geſtalt, Lebensweiſe u. ſ. f. der einzelnen Thiere bereits be- kannt war, häufig verbunden mit einer Ueberſicht des ſich an dieſelben knüpfenden mythiſch-poetiſchen, religiöſen und hiſtoriſchen Details und beſonders ihrer mediciniſchen Wirkungen. Wie neben den techniſch-me- tallurgiſchen Arbeiten vorzüglich die pharmaceutiſchen Verſuche zu den erſten Anfängen der Chemie führten, ſo regten die Beſtrebungen, den 80) Selbſtändige Erweiterung hat die Anatomie, ſelbſt die menſchliche, bei den Arabern kaum gefunden. Ihre Quellen waren Ariſtoteles und Galen. Unter der Liſte ſelbſtändiger Werke wird zwar auch eine Anatomie der Flugthiere erwähnt werden. In welchem Verhältniß aber die nur dem Titel nach bekannte Schrift zu einer wirklichen Anatomie der Vögel ſteht, iſt nicht zu entſcheiden.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/167>, abgerufen am 21.11.2024.