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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Einleitung.
geringerem Grade weigert sich die geistige und sittliche Trägheit, dem
streng folgerichtigen Denken auf das Gebiet jener nicht materiellen aber
von körperlichen Grundlagen ausgehenden Bewegungserscheinungen zu
folgen, welche gemeinhin als seelische bezeichnet durch Eintreten des
freien Willens wie großer Abstractionsfähigkeit zwar vorläufig einer
ins Einzelne gehenden Erklärung ausweichen, aber doch untrennbar
mit den übrigen Theilvorgängen des Lebens verbunden sind. Incon-
sequent war es, den jetzt schon rechnen und messen könnenden Natur-
wissenschaften die Erlaubniß zur Anwendung metaphysischer Begriffe
zuzugestehen, und den nach dem Bedürfniß etwas erweiterten Gebrauch
solcher den Untersuchungen über die belebte Natur verweigern zu wollen.
In allem diesem hilft verwandter Fächer Rath und Beispiel; an ihnen
erstarkt die Methodik auch zur Bewältigung noch dunkler Fragen. Der
Zoologie liegt wegen der Natur ihres Gegenstandes die Gefahr nahe,
von dem Hülfsmittel allgemeiner Annahmen, deren sich indeß auch an-
dere Wissenschaften nicht entschlagen, einen zu reichlichen Gebrauch zu
machen4). Wie ihr aber hier die strenger vom Einzelnen zum Allge-
meinen fortschreitenden Wissenschaften Lehren geben, können diese um-
gekehrt von der Wissenschaft der lebenden Natur lernen, daß es außer
Zahl und Maß noch andere Erkenntnißquellen gibt, durch welche die
Vielheit auf eine Einheit, das Mannichfaltige auf ein Gesetz geführt
wird. So schürzen sich auch über dem Thierreich von neuem die Bande,
welche vorübergehend zwar gelockert, aber je länger desto inniger die
verschiedenen auf Erforschung der Natur gerichteten Bestrebungen zu
einer einzigen Naturwissenschaft vereinigen.


4) "Man is prone to become a deductive reasoner; as soon as he obtains
principles which can be traced to details by logical consequence, he sets
about forming a body of science, by making a system of such reasonings".
Whewell, History of the induct. Scienc. 3. ed. Vol. I. p. 115.

Einleitung.
geringerem Grade weigert ſich die geiſtige und ſittliche Trägheit, dem
ſtreng folgerichtigen Denken auf das Gebiet jener nicht materiellen aber
von körperlichen Grundlagen ausgehenden Bewegungserſcheinungen zu
folgen, welche gemeinhin als ſeeliſche bezeichnet durch Eintreten des
freien Willens wie großer Abſtractionsfähigkeit zwar vorläufig einer
ins Einzelne gehenden Erklärung ausweichen, aber doch untrennbar
mit den übrigen Theilvorgängen des Lebens verbunden ſind. Incon-
ſequent war es, den jetzt ſchon rechnen und meſſen könnenden Natur-
wiſſenſchaften die Erlaubniß zur Anwendung metaphyſiſcher Begriffe
zuzugeſtehen, und den nach dem Bedürfniß etwas erweiterten Gebrauch
ſolcher den Unterſuchungen über die belebte Natur verweigern zu wollen.
In allem dieſem hilft verwandter Fächer Rath und Beiſpiel; an ihnen
erſtarkt die Methodik auch zur Bewältigung noch dunkler Fragen. Der
Zoologie liegt wegen der Natur ihres Gegenſtandes die Gefahr nahe,
von dem Hülfsmittel allgemeiner Annahmen, deren ſich indeß auch an-
dere Wiſſenſchaften nicht entſchlagen, einen zu reichlichen Gebrauch zu
machen4). Wie ihr aber hier die ſtrenger vom Einzelnen zum Allge-
meinen fortſchreitenden Wiſſenſchaften Lehren geben, können dieſe um-
gekehrt von der Wiſſenſchaft der lebenden Natur lernen, daß es außer
Zahl und Maß noch andere Erkenntnißquellen gibt, durch welche die
Vielheit auf eine Einheit, das Mannichfaltige auf ein Geſetz geführt
wird. So ſchürzen ſich auch über dem Thierreich von neuem die Bande,
welche vorübergehend zwar gelockert, aber je länger deſto inniger die
verſchiedenen auf Erforſchung der Natur gerichteten Beſtrebungen zu
einer einzigen Naturwiſſenſchaft vereinigen.


4) »Man is prone to become a deductive reasoner; as soon as he obtains
principles which can be traced to details by logical consequence, he sets
about forming a body of science, by making a system of such reasonings«.
Whewell, History of the induct. Scienc. 3. ed. Vol. I. p. 115.
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[8/0019] Einleitung. geringerem Grade weigert ſich die geiſtige und ſittliche Trägheit, dem ſtreng folgerichtigen Denken auf das Gebiet jener nicht materiellen aber von körperlichen Grundlagen ausgehenden Bewegungserſcheinungen zu folgen, welche gemeinhin als ſeeliſche bezeichnet durch Eintreten des freien Willens wie großer Abſtractionsfähigkeit zwar vorläufig einer ins Einzelne gehenden Erklärung ausweichen, aber doch untrennbar mit den übrigen Theilvorgängen des Lebens verbunden ſind. Incon- ſequent war es, den jetzt ſchon rechnen und meſſen könnenden Natur- wiſſenſchaften die Erlaubniß zur Anwendung metaphyſiſcher Begriffe zuzugeſtehen, und den nach dem Bedürfniß etwas erweiterten Gebrauch ſolcher den Unterſuchungen über die belebte Natur verweigern zu wollen. In allem dieſem hilft verwandter Fächer Rath und Beiſpiel; an ihnen erſtarkt die Methodik auch zur Bewältigung noch dunkler Fragen. Der Zoologie liegt wegen der Natur ihres Gegenſtandes die Gefahr nahe, von dem Hülfsmittel allgemeiner Annahmen, deren ſich indeß auch an- dere Wiſſenſchaften nicht entſchlagen, einen zu reichlichen Gebrauch zu machen 4). Wie ihr aber hier die ſtrenger vom Einzelnen zum Allge- meinen fortſchreitenden Wiſſenſchaften Lehren geben, können dieſe um- gekehrt von der Wiſſenſchaft der lebenden Natur lernen, daß es außer Zahl und Maß noch andere Erkenntnißquellen gibt, durch welche die Vielheit auf eine Einheit, das Mannichfaltige auf ein Geſetz geführt wird. So ſchürzen ſich auch über dem Thierreich von neuem die Bande, welche vorübergehend zwar gelockert, aber je länger deſto inniger die verſchiedenen auf Erforſchung der Natur gerichteten Beſtrebungen zu einer einzigen Naturwiſſenſchaft vereinigen. 4) »Man is prone to become a deductive reasoner; as soon as he obtains principles which can be traced to details by logical consequence, he sets about forming a body of science, by making a system of such reasonings«. Whewell, History of the induct. Scienc. 3. ed. Vol. I. p. 115.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/19>, abgerufen am 30.04.2024.