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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Die Zoologie des Mittelalters.
einen kurzen Ueberblick über die Thiere zu erlangen, auf deren nähere
Bekanntschaft der allgemein philosophisch gebildete Schriftsteller ebenso
wie der gebildete Laie seine zoologischen Anschauungen gründete.

Auch für das Mittelalter ist noch das Fehlen des Begriffs einer
naturhistorischen Art bezeichnend. Das Befangensein im logischen For-
malismus ließ den Beobachter, auf welchen doch die Gleichheit und we-
sentliche Uebereinstimmung so mancher Thiergestalten einen Eindruck
machen mußte, nicht aus dem Bereich rein formaler und verbaler Di-
stinctionen und Definitionen heraustreten und zu der Frage nach dem
natürlichen Grunde einer solchen Uebereinstimmung kommen. Abälard
sagt zwar schon: nihil omnino est praeter individuum. Was aber
darüber hinausgieng, wird nur logisch formal entwickelt, wofür sich
zahlreiche Belege anführen ließen118). Mit diesem Fehlen des Artbe-
griffs hängt auch der Mangel einer wissenschaftlichen Nomenclatur zu-
sammen. Die Thiere werden noch ganz nach antiker Art mit einem der
gewöhnlichen Umgangssprache entnommenen Namen bezeichnet. Die
Wiedererkennung der Thiere war daher nur nach dem Grade ihrer
Verbreitung und des davon abhängigen Bekanntseins in weiteren Kreisen
möglich, da ja mit einem wissenschaftlichen Namen auch eine wissen-
schaftliche Beschreibung oder Charakterisirung fehlte. Folge hiervon
war das häufige Schwanken der Bezeichnungen für ein und dasselbe
Thier nach Verschiedenheit der Fundorte und ist noch heute die Schwie-
rigkeit der Nachbestimmung.

Unter den Hausthieren nahm im Mittelalter das Pferd die her-
vorragende Stelle ein; seine Zucht war sehr verbreitet 119) und galt für

118) So sagt Adelardus Anglicus (Adelard de Bath) in seiner Schrift
de eodem et diverso (verfaßt zwischen 1105 und 1116), daß die Philosophen die
der sinnlichen Betrachtung sich darbietenden Dinge, insofern sie verschiedne Namen
haben und der Zahl nach verschieden sind, Individuen nennen, wie Socrates,
Plato u. a. Betrachten sie aber dieselben Dinge nicht nach der Verschiedenheit, son-
dern insofern sie unter demselben Namen begriffen werden, so nennen
sie dieselben Species. s. Haureau, De la philosophie scolastique. Paris,
1850. T. I. p. 253.
Dieselbe Stelle französisch bei Jourdain, Recherches etc.
2. ed. p. 267.
119) Der Beschäler hieß emissarius oder burdo (Specim. breviarii rerum

Die Zoologie des Mittelalters.
einen kurzen Ueberblick über die Thiere zu erlangen, auf deren nähere
Bekanntſchaft der allgemein philoſophiſch gebildete Schriftſteller ebenſo
wie der gebildete Laie ſeine zoologiſchen Anſchauungen gründete.

Auch für das Mittelalter iſt noch das Fehlen des Begriffs einer
naturhiſtoriſchen Art bezeichnend. Das Befangenſein im logiſchen For-
malismus ließ den Beobachter, auf welchen doch die Gleichheit und we-
ſentliche Uebereinſtimmung ſo mancher Thiergeſtalten einen Eindruck
machen mußte, nicht aus dem Bereich rein formaler und verbaler Di-
ſtinctionen und Definitionen heraustreten und zu der Frage nach dem
natürlichen Grunde einer ſolchen Uebereinſtimmung kommen. Abälard
ſagt zwar ſchon: nihil omnino est praeter individuum. Was aber
darüber hinausgieng, wird nur logiſch formal entwickelt, wofür ſich
zahlreiche Belege anführen ließen118). Mit dieſem Fehlen des Artbe-
griffs hängt auch der Mangel einer wiſſenſchaftlichen Nomenclatur zu-
ſammen. Die Thiere werden noch ganz nach antiker Art mit einem der
gewöhnlichen Umgangsſprache entnommenen Namen bezeichnet. Die
Wiedererkennung der Thiere war daher nur nach dem Grade ihrer
Verbreitung und des davon abhängigen Bekanntſeins in weiteren Kreiſen
möglich, da ja mit einem wiſſenſchaftlichen Namen auch eine wiſſen-
ſchaftliche Beſchreibung oder Charakteriſirung fehlte. Folge hiervon
war das häufige Schwanken der Bezeichnungen für ein und daſſelbe
Thier nach Verſchiedenheit der Fundorte und iſt noch heute die Schwie-
rigkeit der Nachbeſtimmung.

Unter den Hausthieren nahm im Mittelalter das Pferd die her-
vorragende Stelle ein; ſeine Zucht war ſehr verbreitet 119) und galt für

118) So ſagt Adelardus Anglicus (Adélard de Bath) in ſeiner Schrift
de eodem et diverso (verfaßt zwiſchen 1105 und 1116), daß die Philoſophen die
der ſinnlichen Betrachtung ſich darbietenden Dinge, inſofern ſie verſchiedne Namen
haben und der Zahl nach verſchieden ſind, Individuen nennen, wie Socrates,
Plato u. a. Betrachten ſie aber dieſelben Dinge nicht nach der Verſchiedenheit, ſon-
dern inſofern ſie unter demſelben Namen begriffen werden, ſo nennen
ſie dieſelben Species. ſ. Hauréau, De la philosophie scolastique. Paris,
1850. T. I. p. 253.
Dieſelbe Stelle franzöſiſch bei Jourdain, Recherches etc.
2. éd. p. 267.
119) Der Beſchäler hieß emissarius oder burdo (Specim. breviarii rerum
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[180/0191] Die Zoologie des Mittelalters. einen kurzen Ueberblick über die Thiere zu erlangen, auf deren nähere Bekanntſchaft der allgemein philoſophiſch gebildete Schriftſteller ebenſo wie der gebildete Laie ſeine zoologiſchen Anſchauungen gründete. Auch für das Mittelalter iſt noch das Fehlen des Begriffs einer naturhiſtoriſchen Art bezeichnend. Das Befangenſein im logiſchen For- malismus ließ den Beobachter, auf welchen doch die Gleichheit und we- ſentliche Uebereinſtimmung ſo mancher Thiergeſtalten einen Eindruck machen mußte, nicht aus dem Bereich rein formaler und verbaler Di- ſtinctionen und Definitionen heraustreten und zu der Frage nach dem natürlichen Grunde einer ſolchen Uebereinſtimmung kommen. Abälard ſagt zwar ſchon: nihil omnino est praeter individuum. Was aber darüber hinausgieng, wird nur logiſch formal entwickelt, wofür ſich zahlreiche Belege anführen ließen 118). Mit dieſem Fehlen des Artbe- griffs hängt auch der Mangel einer wiſſenſchaftlichen Nomenclatur zu- ſammen. Die Thiere werden noch ganz nach antiker Art mit einem der gewöhnlichen Umgangsſprache entnommenen Namen bezeichnet. Die Wiedererkennung der Thiere war daher nur nach dem Grade ihrer Verbreitung und des davon abhängigen Bekanntſeins in weiteren Kreiſen möglich, da ja mit einem wiſſenſchaftlichen Namen auch eine wiſſen- ſchaftliche Beſchreibung oder Charakteriſirung fehlte. Folge hiervon war das häufige Schwanken der Bezeichnungen für ein und daſſelbe Thier nach Verſchiedenheit der Fundorte und iſt noch heute die Schwie- rigkeit der Nachbeſtimmung. Unter den Hausthieren nahm im Mittelalter das Pferd die her- vorragende Stelle ein; ſeine Zucht war ſehr verbreitet 119) und galt für 118) So ſagt Adelardus Anglicus (Adélard de Bath) in ſeiner Schrift de eodem et diverso (verfaßt zwiſchen 1105 und 1116), daß die Philoſophen die der ſinnlichen Betrachtung ſich darbietenden Dinge, inſofern ſie verſchiedne Namen haben und der Zahl nach verſchieden ſind, Individuen nennen, wie Socrates, Plato u. a. Betrachten ſie aber dieſelben Dinge nicht nach der Verſchiedenheit, ſon- dern inſofern ſie unter demſelben Namen begriffen werden, ſo nennen ſie dieſelben Species. ſ. Hauréau, De la philosophie scolastique. Paris, 1850. T. I. p. 253. Dieſelbe Stelle franzöſiſch bei Jourdain, Recherches etc. 2. éd. p. 267. 119) Der Beſchäler hieß emissarius oder burdo (Specim. breviarii rerum

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/191>, abgerufen am 24.11.2024.