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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Das dreizehnte Jahrhundert.
nicht weiter herabreichen, den Sohar völlig unbefangen als Midrasch
ha-nielam oder Midrasch Jeruschalmi citiren170). Wenn nun auch nicht
zu entscheiden ist, ob der die Erwähnung der Baumgans enthaltende
Theil zu dem schon vor dem babylonischen Talmud Fertigen gehört oder
nicht, so ist doch die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß er vor dem Jahre
1000 geschrieben war. Und dies wäre dann der älteste Nachweis für
das Vorhandensein einer Sage von Vögeln, welche aus den Früchten
gewisser Bäume entstehen, und zwar ein Nachweis aus einem Theile
der Welt her, welcher überhaupt die Wiege so vieler Wundergeschichten
gewesen ist, dem Oriente. Ist auch hiermit noch nicht im Sinne einer
streng historischen Forschung festgestellt, daß auch die Baumgans ein
Kind orientalischer Fantasie sei, so durfte die Hinweisung auf die jeden-
falls völlig unbefangene jüdische Quelle nicht unterdrückt werden.

Derartige Erzählungen erhielten nun beständig neue Nahrung
durch die seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts immer häufiger
und ausgedehnter unternommenen Reisen und den durch dieselben
vermittelten Verkehr mit noch weniger bekannten Theilen des alten
Continentes. Hier war es nicht bloß Asien, welches in seinem cen-
tralen Theile immer weiter durchwandert wurde, freilich um später
in größerem oder geringerem Grade wieder verschlossen zu werden, es
giengen auch zur Unterhaltung des Verkehrs mit Rom Missionen nach
dem christlichen Abessinien, wodurch auch Centralafrica wenigstens
theilweise mit in den Kreis des Besprochenen eintrat. Fällt auch ein
großer Theil dieser Unternehmungen und ihre Ausbeute erst in das vier-
zehnte und das folgende Jahrhundert, so wurde doch von einzelnen der
Schriftsteller, die hier vorzugsweise zu erwähnen sind, manches Frühere
davon schon benutzt. So kannte Roger Baco sowohl den Joannes
de Plano Carpini, welcher schon 1246 Karakorum erreichte, als Ruys-

170) s. Jellinek, Moses ben Schem Tob de Leon und sein Verhältniß zum
Sohar. Leipzig, 1851. Loria, maamr qk@mv't s zohar (Abhandlung über das hohe
Alter des Buches Sohar) Johannisburg, 1857. Die Untersuchung Loria's, welche
mir mein verehrter College Dr. Fürst zugänglich gemacht hat, führt zu dem Resul-
tate, daß der Sohar schon vor dem babylonischen Talmud (um 500), einzelnes jeden-
falls schon zu den Zeiten Simeon ben Jochai's (zweites Jahrhundert) entstanden ist.
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Das dreizehnte Jahrhundert.
nicht weiter herabreichen, den Sohar völlig unbefangen als Midraſch
ha-nielam oder Midraſch Jeruſchalmi citiren170). Wenn nun auch nicht
zu entſcheiden iſt, ob der die Erwähnung der Baumgans enthaltende
Theil zu dem ſchon vor dem babyloniſchen Talmud Fertigen gehört oder
nicht, ſo iſt doch die Wahrſcheinlichkeit ſehr groß, daß er vor dem Jahre
1000 geſchrieben war. Und dies wäre dann der älteſte Nachweis für
das Vorhandenſein einer Sage von Vögeln, welche aus den Früchten
gewiſſer Bäume entſtehen, und zwar ein Nachweis aus einem Theile
der Welt her, welcher überhaupt die Wiege ſo vieler Wundergeſchichten
geweſen iſt, dem Oriente. Iſt auch hiermit noch nicht im Sinne einer
ſtreng hiſtoriſchen Forſchung feſtgeſtellt, daß auch die Baumgans ein
Kind orientaliſcher Fantaſie ſei, ſo durfte die Hinweiſung auf die jeden-
falls völlig unbefangene jüdiſche Quelle nicht unterdrückt werden.

Derartige Erzählungen erhielten nun beſtändig neue Nahrung
durch die ſeit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts immer häufiger
und ausgedehnter unternommenen Reiſen und den durch dieſelben
vermittelten Verkehr mit noch weniger bekannten Theilen des alten
Continentes. Hier war es nicht bloß Aſien, welches in ſeinem cen-
tralen Theile immer weiter durchwandert wurde, freilich um ſpäter
in größerem oder geringerem Grade wieder verſchloſſen zu werden, es
giengen auch zur Unterhaltung des Verkehrs mit Rom Miſſionen nach
dem chriſtlichen Abeſſinien, wodurch auch Centralafrica wenigſtens
theilweiſe mit in den Kreis des Beſprochenen eintrat. Fällt auch ein
großer Theil dieſer Unternehmungen und ihre Ausbeute erſt in das vier-
zehnte und das folgende Jahrhundert, ſo wurde doch von einzelnen der
Schriftſteller, die hier vorzugsweiſe zu erwähnen ſind, manches Frühere
davon ſchon benutzt. So kannte Roger Baco ſowohl den Joannes
de Plano Carpini, welcher ſchon 1246 Karakorum erreichte, als Ruys-

170) ſ. Jellinek, Moſes ben Schem Tob de Leon und ſein Verhältniß zum
Sohar. Leipzig, 1851. Loria, מַֽאַמר קךְמוּת ס֞ זֹהַר (Abhandlung über das hohe
Alter des Buches Sohar) Johannisburg, 1857. Die Unterſuchung Loria's, welche
mir mein verehrter College Dr. Fürſt zugänglich gemacht hat, führt zu dem Reſul-
tate, daß der Sohar ſchon vor dem babyloniſchen Talmud (um 500), einzelnes jeden-
falls ſchon zu den Zeiten Simeon ben Jochai's (zweites Jahrhundert) entſtanden iſt.
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[195/0206] Das dreizehnte Jahrhundert. nicht weiter herabreichen, den Sohar völlig unbefangen als Midraſch ha-nielam oder Midraſch Jeruſchalmi citiren 170). Wenn nun auch nicht zu entſcheiden iſt, ob der die Erwähnung der Baumgans enthaltende Theil zu dem ſchon vor dem babyloniſchen Talmud Fertigen gehört oder nicht, ſo iſt doch die Wahrſcheinlichkeit ſehr groß, daß er vor dem Jahre 1000 geſchrieben war. Und dies wäre dann der älteſte Nachweis für das Vorhandenſein einer Sage von Vögeln, welche aus den Früchten gewiſſer Bäume entſtehen, und zwar ein Nachweis aus einem Theile der Welt her, welcher überhaupt die Wiege ſo vieler Wundergeſchichten geweſen iſt, dem Oriente. Iſt auch hiermit noch nicht im Sinne einer ſtreng hiſtoriſchen Forſchung feſtgeſtellt, daß auch die Baumgans ein Kind orientaliſcher Fantaſie ſei, ſo durfte die Hinweiſung auf die jeden- falls völlig unbefangene jüdiſche Quelle nicht unterdrückt werden. Derartige Erzählungen erhielten nun beſtändig neue Nahrung durch die ſeit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts immer häufiger und ausgedehnter unternommenen Reiſen und den durch dieſelben vermittelten Verkehr mit noch weniger bekannten Theilen des alten Continentes. Hier war es nicht bloß Aſien, welches in ſeinem cen- tralen Theile immer weiter durchwandert wurde, freilich um ſpäter in größerem oder geringerem Grade wieder verſchloſſen zu werden, es giengen auch zur Unterhaltung des Verkehrs mit Rom Miſſionen nach dem chriſtlichen Abeſſinien, wodurch auch Centralafrica wenigſtens theilweiſe mit in den Kreis des Beſprochenen eintrat. Fällt auch ein großer Theil dieſer Unternehmungen und ihre Ausbeute erſt in das vier- zehnte und das folgende Jahrhundert, ſo wurde doch von einzelnen der Schriftſteller, die hier vorzugsweiſe zu erwähnen ſind, manches Frühere davon ſchon benutzt. So kannte Roger Baco ſowohl den Joannes de Plano Carpini, welcher ſchon 1246 Karakorum erreichte, als Ruys- 170) ſ. Jellinek, Moſes ben Schem Tob de Leon und ſein Verhältniß zum Sohar. Leipzig, 1851. Loria, מַֽאַמר קךְמוּת ס֞ זֹהַר (Abhandlung über das hohe Alter des Buches Sohar) Johannisburg, 1857. Die Unterſuchung Loria's, welche mir mein verehrter College Dr. Fürſt zugänglich gemacht hat, führt zu dem Reſul- tate, daß der Sohar ſchon vor dem babyloniſchen Talmud (um 500), einzelnes jeden- falls ſchon zu den Zeiten Simeon ben Jochai's (zweites Jahrhundert) entſtanden iſt. 13*

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/206>, abgerufen am 23.11.2024.