Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Das dreizehnte Jahrhundert.
naturgemäße Auffassung der Thiere zu Tage. Der Verfasser legt sich
doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli-
ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, so gut es eben geht, zu beant-
worten sucht. Namentlich sind aber die Einleitungen zu den den Thie-
ren gewidmeten Büchern so rein naturhistorisch gehalten und von den
fast nur allegorischen und mystischen Betrachtungen der früheren Zeiten
so verschieden, daß man in ihnen in der That die ersten Beispiele allge-
mein naturgeschichtlicher Charakterisirung einzelner Classen in neuerer
Zeit findet. Freilich ist dabei nicht etwa an eine systematische Schilde-
rung zu denken. So wenig Aristoteles seine großen Gattungen definirte,
so wenig hält es Thomas für nothwendig, die schon in der Sprache
gegebenen und meist im Aristoteles wiedergefundenen allgemeinen
Gruppen zunächst als systematische Abtheilungen zu bezeichnen.

Besonders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch
enthält sowohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der
Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Moralisationen, welche sich in
den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht so häufig finden.
Den wichtigsten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologische
Bemerkungen aus, vorzüglich nach Aristoteles; so z. B. alle Thiere
mit zwei oder vier Füßen oder ohne solche haben Blut, die vielfüßigen
haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben diese beweglich, außer
dem Menschen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen
Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern schließen diese im Schlafe,
außer dem Löwen und dem Hasen. Dazwischen kommen freilich auch
an den praktischen Geistlichen erinnernde Betrachtungen vor; so wenn
er untersucht, ob die monströsen Menschen von Adam abstammen, oder
warum der Mensch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen
besitzt. In Bezug auf die anatomischen Vorbegriffe steht Thomas noch
auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner-
ven heißen. Die allgemeinen physiologischen Anschauungen des Verfas-
sers sind im Ganzen die des Aristoteles. Das Falsche wird hier mit dem
Richtigen aus dieser Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer-
thier Chilon (dem Chelon des Aristoteles, einer Art kestreus, Mugil)
anführt, es ernähre sich nur von seinem eigenen Schleim, ganz wie es

Das dreizehnte Jahrhundert.
naturgemäße Auffaſſung der Thiere zu Tage. Der Verfaſſer legt ſich
doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli-
ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, ſo gut es eben geht, zu beant-
worten ſucht. Namentlich ſind aber die Einleitungen zu den den Thie-
ren gewidmeten Büchern ſo rein naturhiſtoriſch gehalten und von den
faſt nur allegoriſchen und myſtiſchen Betrachtungen der früheren Zeiten
ſo verſchieden, daß man in ihnen in der That die erſten Beiſpiele allge-
mein naturgeſchichtlicher Charakteriſirung einzelner Claſſen in neuerer
Zeit findet. Freilich iſt dabei nicht etwa an eine ſyſtematiſche Schilde-
rung zu denken. So wenig Ariſtoteles ſeine großen Gattungen definirte,
ſo wenig hält es Thomas für nothwendig, die ſchon in der Sprache
gegebenen und meiſt im Ariſtoteles wiedergefundenen allgemeinen
Gruppen zunächſt als ſyſtematiſche Abtheilungen zu bezeichnen.

Beſonders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch
enthält ſowohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der
Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Moraliſationen, welche ſich in
den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht ſo häufig finden.
Den wichtigſten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologiſche
Bemerkungen aus, vorzüglich nach Ariſtoteles; ſo z. B. alle Thiere
mit zwei oder vier Füßen oder ohne ſolche haben Blut, die vielfüßigen
haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben dieſe beweglich, außer
dem Menſchen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen
Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern ſchließen dieſe im Schlafe,
außer dem Löwen und dem Haſen. Dazwiſchen kommen freilich auch
an den praktiſchen Geiſtlichen erinnernde Betrachtungen vor; ſo wenn
er unterſucht, ob die monſtröſen Menſchen von Adam abſtammen, oder
warum der Menſch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen
beſitzt. In Bezug auf die anatomiſchen Vorbegriffe ſteht Thomas noch
auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner-
ven heißen. Die allgemeinen phyſiologiſchen Anſchauungen des Verfaſ-
ſers ſind im Ganzen die des Ariſtoteles. Das Falſche wird hier mit dem
Richtigen aus dieſer Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer-
thier Chilon (dem Chelon des Ariſtoteles, einer Art kestreus, Mugil)
anführt, es ernähre ſich nur von ſeinem eigenen Schleim, ganz wie es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0226" n="215"/><fw place="top" type="header">Das dreizehnte Jahrhundert.</fw><lb/>
naturgemäße Auffa&#x017F;&#x017F;ung der Thiere zu Tage. Der Verfa&#x017F;&#x017F;er legt &#x017F;ich<lb/>
doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli-<lb/>
ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, &#x017F;o gut es eben geht, zu beant-<lb/>
worten &#x017F;ucht. Namentlich &#x017F;ind aber die Einleitungen zu den den Thie-<lb/>
ren gewidmeten Büchern &#x017F;o rein naturhi&#x017F;tori&#x017F;ch gehalten und von den<lb/>
fa&#x017F;t nur allegori&#x017F;chen und my&#x017F;ti&#x017F;chen Betrachtungen der früheren Zeiten<lb/>
&#x017F;o ver&#x017F;chieden, daß man in ihnen in der That die er&#x017F;ten Bei&#x017F;piele allge-<lb/>
mein naturge&#x017F;chichtlicher Charakteri&#x017F;irung einzelner Cla&#x017F;&#x017F;en in neuerer<lb/>
Zeit findet. Freilich i&#x017F;t dabei nicht etwa an eine &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Schilde-<lb/>
rung zu denken. So wenig <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName> &#x017F;eine großen Gattungen definirte,<lb/>
&#x017F;o wenig hält es <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118802003">Thomas</persName> für nothwendig, die &#x017F;chon in der Sprache<lb/>
gegebenen und mei&#x017F;t im <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName> wiedergefundenen allgemeinen<lb/>
Gruppen zunäch&#x017F;t als &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Abtheilungen zu bezeichnen.</p><lb/>
          <p>Be&#x017F;onders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch<lb/>
enthält &#x017F;owohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der<lb/>
Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Morali&#x017F;ationen, welche &#x017F;ich in<lb/>
den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht &#x017F;o häufig finden.<lb/>
Den wichtig&#x017F;ten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologi&#x017F;che<lb/>
Bemerkungen aus, vorzüglich nach <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName>; &#x017F;o z. B. alle Thiere<lb/>
mit zwei oder vier Füßen oder ohne &#x017F;olche haben Blut, die vielfüßigen<lb/>
haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben die&#x017F;e beweglich, außer<lb/>
dem Men&#x017F;chen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen<lb/>
Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern &#x017F;chließen die&#x017F;e im Schlafe,<lb/>
außer dem Löwen und dem Ha&#x017F;en. Dazwi&#x017F;chen kommen freilich auch<lb/>
an den prakti&#x017F;chen Gei&#x017F;tlichen erinnernde Betrachtungen vor; &#x017F;o wenn<lb/>
er unter&#x017F;ucht, ob die mon&#x017F;trö&#x017F;en Men&#x017F;chen von Adam ab&#x017F;tammen, oder<lb/>
warum der Men&#x017F;ch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen<lb/>
be&#x017F;itzt. In Bezug auf die anatomi&#x017F;chen Vorbegriffe &#x017F;teht <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118802003">Thomas</persName> noch<lb/>
auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner-<lb/>
ven heißen. Die allgemeinen phy&#x017F;iologi&#x017F;chen An&#x017F;chauungen des Verfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ers &#x017F;ind im Ganzen die des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName>. Das Fal&#x017F;che wird hier mit dem<lb/>
Richtigen aus die&#x017F;er Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer-<lb/>
thier Chilon (dem <hi rendition="#aq">Chelon</hi> des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName>, einer Art <hi rendition="#aq">kestreus, Mugil</hi>)<lb/>
anführt, es ernähre &#x017F;ich nur von &#x017F;einem eigenen Schleim, ganz wie es<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215/0226] Das dreizehnte Jahrhundert. naturgemäße Auffaſſung der Thiere zu Tage. Der Verfaſſer legt ſich doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli- ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, ſo gut es eben geht, zu beant- worten ſucht. Namentlich ſind aber die Einleitungen zu den den Thie- ren gewidmeten Büchern ſo rein naturhiſtoriſch gehalten und von den faſt nur allegoriſchen und myſtiſchen Betrachtungen der früheren Zeiten ſo verſchieden, daß man in ihnen in der That die erſten Beiſpiele allge- mein naturgeſchichtlicher Charakteriſirung einzelner Claſſen in neuerer Zeit findet. Freilich iſt dabei nicht etwa an eine ſyſtematiſche Schilde- rung zu denken. So wenig Ariſtoteles ſeine großen Gattungen definirte, ſo wenig hält es Thomas für nothwendig, die ſchon in der Sprache gegebenen und meiſt im Ariſtoteles wiedergefundenen allgemeinen Gruppen zunächſt als ſyſtematiſche Abtheilungen zu bezeichnen. Beſonders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch enthält ſowohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Moraliſationen, welche ſich in den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht ſo häufig finden. Den wichtigſten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologiſche Bemerkungen aus, vorzüglich nach Ariſtoteles; ſo z. B. alle Thiere mit zwei oder vier Füßen oder ohne ſolche haben Blut, die vielfüßigen haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben dieſe beweglich, außer dem Menſchen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern ſchließen dieſe im Schlafe, außer dem Löwen und dem Haſen. Dazwiſchen kommen freilich auch an den praktiſchen Geiſtlichen erinnernde Betrachtungen vor; ſo wenn er unterſucht, ob die monſtröſen Menſchen von Adam abſtammen, oder warum der Menſch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen beſitzt. In Bezug auf die anatomiſchen Vorbegriffe ſteht Thomas noch auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner- ven heißen. Die allgemeinen phyſiologiſchen Anſchauungen des Verfaſ- ſers ſind im Ganzen die des Ariſtoteles. Das Falſche wird hier mit dem Richtigen aus dieſer Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer- thier Chilon (dem Chelon des Ariſtoteles, einer Art kestreus, Mugil) anführt, es ernähre ſich nur von ſeinem eigenen Schleim, ganz wie es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/226
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/226>, abgerufen am 20.05.2024.