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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Die Zoologie des Mittelalters.
ten, wie man sie nun eben auffaßte, noch immer rege war, beweist die
vom vierzehnten Jahrhundert an erfolgte Gründung so zahlreicher Uni-
versitäten in Deutschland, obschon auch hier ein Nachwirken oder selbst
Weiterspinnen des alten Streites zwischen Realismus und Nominalis-
mus als ursächliches Moment vielleicht ins Auge gefaßt werden muß.
Das Motiv zur Gründung der Universität Prag (1348) scheint nur
in dem Wunsche Karl's IV bestanden zu haben, die Hauptstadt seines
Erblandes zu einem Mittelpunkt der Wissenschaft zu erheben. Die
Gründung der Wiener Universität unter Herzog Albrecht V durch Jo-
hann Buridanus
, der Heidelberger unter Kurfürst Rupert I durch Mar-
silius von Inghen
(1365 und 1386) scheint doch mit dem Umstande in
Zusammenhang zu stehen, daß beide genannte Gelehrte, Schüler Oc-
cam's und als solche Nominalisten, dem Terrorismus des in Paris herr-
schenden Realismus auszuweichen vorzogen. Und wenn auch die Aus-
wanderung der deutschen Nation aus Prag vorzüglich durch nationale
Eifersucht veranlaßt war, so darf nicht vergessen werden, daß auch hier
die Auswanderer vorzüglich Nominalisten, die nationalen Böhmen, an
ihrer Spitze Johann Huß, Realisten waren. Von einem Vorherrschen
des aristotelischen Nominalismus und einem etwaigen Einflusse eines
solchen auf naturwissenschaftliche Ansichten in den deutschen wissen-
schaftlichen Kreisen ist nun aber nichts zu bemerken. Die Streitpunkte
waren rein äußerlich formale oder theologische.

Dabei ist nun aber nicht zu verkennen, daß im Allgemeinen etwas
mehr Präcision in die Anschauungen gekommen war. Wie vom vier-
zehnten Jahrhunderte an die Geschichtschreibung eine zwar localere,
aber sicherere, nicht mehr nach epischen Idealen zugerichtete Form an-
nimmt, so ist auch der Charakter der praktisch verwendbaren Wissen-
schaften ein etwas zuverlässigerer geworden. Astrologische und alchy-
mistische Phantasien spuken zwar noch immer fort; sie bieten aber die
Handhabe zur Verwerthung des sonst für Zwecke des täglichen Le-
bens völlig unbrauchbaren und daher ohne jene wohl gar nicht beach-
teten Stoffes. Von besonderem Werthe für den später eintretenden
Aufschwung der Zoologie ist die Bearbeitung, welche die menschliche
Anatomie vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts an fand. Mon-

Die Zoologie des Mittelalters.
ten, wie man ſie nun eben auffaßte, noch immer rege war, beweiſt die
vom vierzehnten Jahrhundert an erfolgte Gründung ſo zahlreicher Uni-
verſitäten in Deutſchland, obſchon auch hier ein Nachwirken oder ſelbſt
Weiterſpinnen des alten Streites zwiſchen Realismus und Nominalis-
mus als urſächliches Moment vielleicht ins Auge gefaßt werden muß.
Das Motiv zur Gründung der Univerſität Prag (1348) ſcheint nur
in dem Wunſche Karl's IV beſtanden zu haben, die Hauptſtadt ſeines
Erblandes zu einem Mittelpunkt der Wiſſenſchaft zu erheben. Die
Gründung der Wiener Univerſität unter Herzog Albrecht V durch Jo-
hann Buridanus
, der Heidelberger unter Kurfürſt Rupert I durch Mar-
ſilius von Inghen
(1365 und 1386) ſcheint doch mit dem Umſtande in
Zuſammenhang zu ſtehen, daß beide genannte Gelehrte, Schüler Oc-
cam's und als ſolche Nominaliſten, dem Terrorismus des in Paris herr-
ſchenden Realismus auszuweichen vorzogen. Und wenn auch die Aus-
wanderung der deutſchen Nation aus Prag vorzüglich durch nationale
Eiferſucht veranlaßt war, ſo darf nicht vergeſſen werden, daß auch hier
die Auswanderer vorzüglich Nominaliſten, die nationalen Böhmen, an
ihrer Spitze Johann Huß, Realiſten waren. Von einem Vorherrſchen
des ariſtoteliſchen Nominalismus und einem etwaigen Einfluſſe eines
ſolchen auf naturwiſſenſchaftliche Anſichten in den deutſchen wiſſen-
ſchaftlichen Kreiſen iſt nun aber nichts zu bemerken. Die Streitpunkte
waren rein äußerlich formale oder theologiſche.

Dabei iſt nun aber nicht zu verkennen, daß im Allgemeinen etwas
mehr Präciſion in die Anſchauungen gekommen war. Wie vom vier-
zehnten Jahrhunderte an die Geſchichtſchreibung eine zwar localere,
aber ſicherere, nicht mehr nach epiſchen Idealen zugerichtete Form an-
nimmt, ſo iſt auch der Charakter der praktiſch verwendbaren Wiſſen-
ſchaften ein etwas zuverläſſigerer geworden. Aſtrologiſche und alchy-
miſtiſche Phantaſien ſpuken zwar noch immer fort; ſie bieten aber die
Handhabe zur Verwerthung des ſonſt für Zwecke des täglichen Le-
bens völlig unbrauchbaren und daher ohne jene wohl gar nicht beach-
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[254/0265] Die Zoologie des Mittelalters. ten, wie man ſie nun eben auffaßte, noch immer rege war, beweiſt die vom vierzehnten Jahrhundert an erfolgte Gründung ſo zahlreicher Uni- verſitäten in Deutſchland, obſchon auch hier ein Nachwirken oder ſelbſt Weiterſpinnen des alten Streites zwiſchen Realismus und Nominalis- mus als urſächliches Moment vielleicht ins Auge gefaßt werden muß. Das Motiv zur Gründung der Univerſität Prag (1348) ſcheint nur in dem Wunſche Karl's IV beſtanden zu haben, die Hauptſtadt ſeines Erblandes zu einem Mittelpunkt der Wiſſenſchaft zu erheben. Die Gründung der Wiener Univerſität unter Herzog Albrecht V durch Jo- hann Buridanus, der Heidelberger unter Kurfürſt Rupert I durch Mar- ſilius von Inghen (1365 und 1386) ſcheint doch mit dem Umſtande in Zuſammenhang zu ſtehen, daß beide genannte Gelehrte, Schüler Oc- cam's und als ſolche Nominaliſten, dem Terrorismus des in Paris herr- ſchenden Realismus auszuweichen vorzogen. Und wenn auch die Aus- wanderung der deutſchen Nation aus Prag vorzüglich durch nationale Eiferſucht veranlaßt war, ſo darf nicht vergeſſen werden, daß auch hier die Auswanderer vorzüglich Nominaliſten, die nationalen Böhmen, an ihrer Spitze Johann Huß, Realiſten waren. Von einem Vorherrſchen des ariſtoteliſchen Nominalismus und einem etwaigen Einfluſſe eines ſolchen auf naturwiſſenſchaftliche Anſichten in den deutſchen wiſſen- ſchaftlichen Kreiſen iſt nun aber nichts zu bemerken. Die Streitpunkte waren rein äußerlich formale oder theologiſche. Dabei iſt nun aber nicht zu verkennen, daß im Allgemeinen etwas mehr Präciſion in die Anſchauungen gekommen war. Wie vom vier- zehnten Jahrhunderte an die Geſchichtſchreibung eine zwar localere, aber ſicherere, nicht mehr nach epiſchen Idealen zugerichtete Form an- nimmt, ſo iſt auch der Charakter der praktiſch verwendbaren Wiſſen- ſchaften ein etwas zuverläſſigerer geworden. Aſtrologiſche und alchy- miſtiſche Phantaſien ſpuken zwar noch immer fort; ſie bieten aber die Handhabe zur Verwerthung des ſonſt für Zwecke des täglichen Le- bens völlig unbrauchbaren und daher ohne jene wohl gar nicht beach- teten Stoffes. Von beſonderem Werthe für den ſpäter eintretenden Aufſchwung der Zoologie iſt die Bearbeitung, welche die menſchliche Anatomie vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts an fand. Mon-

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/265>, abgerufen am 22.11.2024.