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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Zoologische Kenntnisse des Alterthums.
wirkte, ihre Sprache zurück"19. Besonders hören und verstehen die
Vögel menschlicher Sprache Laut und Sinn; sie reden ihr eigen "La-
tein", was nur gescheidte Leute verstehn20. Am reichsten ist der Rabe
und die Nachtigall bedacht. Sprachen aber die Thiere, so mußten sie
auch denken und fühlen wie Menschen. Ergötzlich sind die Thierhoch-
zeiten, bedeutungsvoller die Streitigkeiten zwischen ihnen und den Men-
schen oder unter einander. Hier erscheinen sie vor menschlichem Rich-
ter21) oder auch vor thierischem (so Wolf und Pfasse vor dem Bären).
Auch werden Thiere mit dem Banne belegt.

Auch Thierfabel und Thiersage "muß durch die Vorstellung an Be-
deutsamkeit gewinnen, daß ihr ein Gemeingut zu Grunde liege, das seit
frühester Zeit stammverwandten Völkern, ohne nachweisbare Uebergänge
von einem auf das andere, zugehöre". Die früheste erhaltene Form dieses
gemeinsamen Sagenkreises, dessen ursprüngliche Kraft und Fülle nirgend
mehr anzutreffen ist, bietet Indien dar. Doch entspricht dieselbe ver-
muthlich nicht der reinen ältesten Gestalt. Denn wenn auch im Pant-
schatantra und Hitopadesa, ebenso wie in den aus ersterem entnomme-
nen Fabeln des Mahabharata Thiere redend und handelnd eingeführt
werden, so treten dieselben hier nur als willkürlich gewählte Bilder auf.
Es werden ihnen menschliche Rede und Handlungsweise zugeschrieben,
um irgend eine Lehre zu versinnlichen, aber ohne daß dabei an die Ei-
genartigkeit des Thieres gedacht würde, so z. B. in der Erzählung von

19 In der bereits angeführten außerordentlich schönen Einleitung J.
Grimm
's zu seiner Ausgabe des Reinhart Fuchs p. V.
20 Dessen rühmt sich Alkman, 61. Fragm.: oida d' ornikhon nomos
panton.
21) Klagen gegen Thiere sind vom 8. bis 18. Jahrhundert wiederholt erhoben
und Prozesse mit allen Regeln der Kunst angestrengt worden. Eine Zusammenstel-
lung solcher gibt Berriat de Saint Prix, Rapport et Recherches sur les
proces et jugemens relatifs aux animaux
in: Mem. de la Soc. Roy. des An-
tiquaires de France. Tom. 8. Paris, 1829, p. 403-450.
In England scheint
sich dieser Gebrauch noch weiter herab erhalten zu haben; s. Allgem. deutsche Straf-
rechtszeitung 1861. S. 32. Weitere Litteratur über diesen culturhistorisch interessan-
ten Gegenstand s. in Geib, Lehrb. d. deutschen Strafrechts. Bd. 2. S. 197 und
Osenbrüggen, Studien zur deutschen u. schweizer. Rechtsgeschichte. Schaffhau-
sen, 1868. VII. Die Personificirung der Thiere. S. 139.

Zoologiſche Kenntniſſe des Alterthums.
wirkte, ihre Sprache zurück“19. Beſonders hören und verſtehen die
Vögel menſchlicher Sprache Laut und Sinn; ſie reden ihr eigen „La-
tein“, was nur geſcheidte Leute verſtehn20. Am reichſten iſt der Rabe
und die Nachtigall bedacht. Sprachen aber die Thiere, ſo mußten ſie
auch denken und fühlen wie Menſchen. Ergötzlich ſind die Thierhoch-
zeiten, bedeutungsvoller die Streitigkeiten zwiſchen ihnen und den Men-
ſchen oder unter einander. Hier erſcheinen ſie vor menſchlichem Rich-
ter21) oder auch vor thieriſchem (ſo Wolf und Pfaſſe vor dem Bären).
Auch werden Thiere mit dem Banne belegt.

Auch Thierfabel und Thierſage „muß durch die Vorſtellung an Be-
deutſamkeit gewinnen, daß ihr ein Gemeingut zu Grunde liege, das ſeit
früheſter Zeit ſtammverwandten Völkern, ohne nachweisbare Uebergänge
von einem auf das andere, zugehöre“. Die früheſte erhaltene Form dieſes
gemeinſamen Sagenkreiſes, deſſen urſprüngliche Kraft und Fülle nirgend
mehr anzutreffen iſt, bietet Indien dar. Doch entſpricht dieſelbe ver-
muthlich nicht der reinen älteſten Geſtalt. Denn wenn auch im Pant-
ſchatantra und Hitopadeſa, ebenſo wie in den aus erſterem entnomme-
nen Fabeln des Mahabharata Thiere redend und handelnd eingeführt
werden, ſo treten dieſelben hier nur als willkürlich gewählte Bilder auf.
Es werden ihnen menſchliche Rede und Handlungsweiſe zugeſchrieben,
um irgend eine Lehre zu verſinnlichen, aber ohne daß dabei an die Ei-
genartigkeit des Thieres gedacht würde, ſo z. B. in der Erzählung von

19 In der bereits angeführten außerordentlich ſchönen Einleitung J.
Grimm
's zu ſeiner Ausgabe des Reinhart Fuchs p. V.
20 Deſſen rühmt ſich Alkman, 61. Fragm.: οἰδα δ᾿ ὀρνίχων νόμως
πάντων.
21) Klagen gegen Thiere ſind vom 8. bis 18. Jahrhundert wiederholt erhoben
und Prozeſſe mit allen Regeln der Kunſt angeſtrengt worden. Eine Zuſammenſtel-
lung ſolcher gibt Berriat de Saint Prix, Rapport et Recherches sur les
procès et jugemens relatifs aux animaux
in: Mém. de la Soc. Roy. des An-
tiquaires de France. Tom. 8. Paris, 1829, p. 403-450.
In England ſcheint
ſich dieſer Gebrauch noch weiter herab erhalten zu haben; ſ. Allgem. deutſche Straf-
rechtszeitung 1861. S. 32. Weitere Litteratur über dieſen culturhiſtoriſch intereſſan-
ten Gegenſtand ſ. in Geib, Lehrb. d. deutſchen Strafrechts. Bd. 2. S. 197 und
Oſenbrüggen, Studien zur deutſchen u. ſchweizer. Rechtsgeſchichte. Schaffhau-
ſen, 1868. VII. Die Perſonificirung der Thiere. S. 139.
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[20/0031] Zoologiſche Kenntniſſe des Alterthums. wirkte, ihre Sprache zurück“ 19. Beſonders hören und verſtehen die Vögel menſchlicher Sprache Laut und Sinn; ſie reden ihr eigen „La- tein“, was nur geſcheidte Leute verſtehn 20. Am reichſten iſt der Rabe und die Nachtigall bedacht. Sprachen aber die Thiere, ſo mußten ſie auch denken und fühlen wie Menſchen. Ergötzlich ſind die Thierhoch- zeiten, bedeutungsvoller die Streitigkeiten zwiſchen ihnen und den Men- ſchen oder unter einander. Hier erſcheinen ſie vor menſchlichem Rich- ter 21) oder auch vor thieriſchem (ſo Wolf und Pfaſſe vor dem Bären). Auch werden Thiere mit dem Banne belegt. Auch Thierfabel und Thierſage „muß durch die Vorſtellung an Be- deutſamkeit gewinnen, daß ihr ein Gemeingut zu Grunde liege, das ſeit früheſter Zeit ſtammverwandten Völkern, ohne nachweisbare Uebergänge von einem auf das andere, zugehöre“. Die früheſte erhaltene Form dieſes gemeinſamen Sagenkreiſes, deſſen urſprüngliche Kraft und Fülle nirgend mehr anzutreffen iſt, bietet Indien dar. Doch entſpricht dieſelbe ver- muthlich nicht der reinen älteſten Geſtalt. Denn wenn auch im Pant- ſchatantra und Hitopadeſa, ebenſo wie in den aus erſterem entnomme- nen Fabeln des Mahabharata Thiere redend und handelnd eingeführt werden, ſo treten dieſelben hier nur als willkürlich gewählte Bilder auf. Es werden ihnen menſchliche Rede und Handlungsweiſe zugeſchrieben, um irgend eine Lehre zu verſinnlichen, aber ohne daß dabei an die Ei- genartigkeit des Thieres gedacht würde, ſo z. B. in der Erzählung von 19 In der bereits angeführten außerordentlich ſchönen Einleitung J. Grimm's zu ſeiner Ausgabe des Reinhart Fuchs p. V. 20 Deſſen rühmt ſich Alkman, 61. Fragm.: οἰδα δ᾿ ὀρνίχων νόμως πάντων. 21) Klagen gegen Thiere ſind vom 8. bis 18. Jahrhundert wiederholt erhoben und Prozeſſe mit allen Regeln der Kunſt angeſtrengt worden. Eine Zuſammenſtel- lung ſolcher gibt Berriat de Saint Prix, Rapport et Recherches sur les procès et jugemens relatifs aux animaux in: Mém. de la Soc. Roy. des An- tiquaires de France. Tom. 8. Paris, 1829, p. 403-450. In England ſcheint ſich dieſer Gebrauch noch weiter herab erhalten zu haben; ſ. Allgem. deutſche Straf- rechtszeitung 1861. S. 32. Weitere Litteratur über dieſen culturhiſtoriſch intereſſan- ten Gegenſtand ſ. in Geib, Lehrb. d. deutſchen Strafrechts. Bd. 2. S. 197 und Oſenbrüggen, Studien zur deutſchen u. ſchweizer. Rechtsgeſchichte. Schaffhau- ſen, 1868. VII. Die Perſonificirung der Thiere. S. 139.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/31>, abgerufen am 30.04.2024.