Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.3. Alter und Verbreitung der Thierfabel. den beiden Fischen, deren Namen schon, Vorsicht und Schlauheit, dieallegorische Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel ist ein didaktischer. Reiner hat sich die individualisirende, an die entsprechende Charakteristik einzelner Thiere anschließende Form bei den Griechen er- halten. Erscheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall, welche in den Erga des Hesiod (V. 200-210) erzählt wird, so finden sich doch hier schon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit erscheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden erwachsenden Thierepos werden. Es wäre überflüssig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu 22) Manches erinnert hierbei an die naturwüchsige Derbheit unserer heutigen, besonders niederdeutschen Sprüchwörter; so eins der Skolien des Alkaios (16. Fragm.): "Geradezu muß der Freund sein und keine Schliche machen, sagte der Krebs und packte die Schlange mit der Scheere". Andre Redensarten sind gelegent- lich verwendbare Bruchstücke aus Fabeln gewesen; so tettiges khamothen adosin des Stesichoros, oder tettiga d eilephas pterou des Archilochos und das poll oid alopex desselben. 23) So enthalten die Narrationes des Odo de Ciringtonia (Shirton) eine
Fabel von Isegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (Grimm, Reinhart Fuchs, Ein- leitung, p. CCXXI, und Lemcke's Jahrb. für romanische u. engl. Literatur, 9. Bd. 3. Alter und Verbreitung der Thierfabel. den beiden Fiſchen, deren Namen ſchon, Vorſicht und Schlauheit, dieallegoriſche Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel iſt ein didaktiſcher. Reiner hat ſich die individualiſirende, an die entſprechende Charakteriſtik einzelner Thiere anſchließende Form bei den Griechen er- halten. Erſcheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall, welche in den Erga des Heſiod (V. 200-210) erzählt wird, ſo finden ſich doch hier ſchon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit erſcheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden erwachſenden Thierepos werden. Es wäre überflüſſig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu 22) Manches erinnert hierbei an die naturwüchſige Derbheit unſerer heutigen, beſonders niederdeutſchen Sprüchwörter; ſo eins der Skolien des Alkaios (16. Fragm.): „Geradezu muß der Freund ſein und keine Schliche machen, ſagte der Krebs und packte die Schlange mit der Scheere“. Andre Redensarten ſind gelegent- lich verwendbare Bruchſtücke aus Fabeln geweſen; ſo τέττιγες χαμόθεν ᾄδωσιν des Steſichoros, oder τέττιγα δ̕ εἴληφας πτεροῦ des Archilochos und das πόλλ̕ οἰδ̕ ἀλώπηξ deſſelben. 23) So enthalten die Narrationes des Odo de Ciringtonia (Shirton) eine
Fabel von Iſegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (Grimm, Reinhart Fuchs, Ein- leitung, p. CCXXI, und Lemcke's Jahrb. für romaniſche u. engl. Literatur, 9. Bd. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0032" n="21"/><fw place="top" type="header">3. Alter und Verbreitung der Thierfabel.</fw><lb/> den beiden Fiſchen, deren Namen ſchon, Vorſicht und Schlauheit, die<lb/> allegoriſche Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel iſt ein<lb/> didaktiſcher. Reiner hat ſich die individualiſirende, an die entſprechende<lb/> Charakteriſtik einzelner Thiere anſchließende Form bei den Griechen er-<lb/> halten. Erſcheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen<lb/> noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall,<lb/> welche in den Erga des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118550292">Heſiod</persName> (V. 200-210) erzählt wird, ſo finden<lb/> ſich doch hier ſchon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit<lb/> erſcheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden<lb/> erwachſenden Thierepos werden.</p><lb/> <p>Es wäre überflüſſig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu<lb/> erinnern, welcher zwar nicht ausſchließlich deutſch, aber doch in deut-<lb/> ſchen Grenzgebieten entſtanden iſt. Wichtig iſt, daß in etwas anderer<lb/> Form einzelne Züge ſchon früher ſprüchwörtlich verbreitet waren<note place="foot" n="22)"> Manches erinnert hierbei an die naturwüchſige Derbheit unſerer heutigen,<lb/> beſonders niederdeutſchen Sprüchwörter; ſo eins der Skolien des Alkaios (16.<lb/> Fragm.): „Geradezu muß der Freund ſein und keine Schliche machen, ſagte der<lb/> Krebs und packte die Schlange mit der Scheere“. Andre Redensarten ſind gelegent-<lb/> lich verwendbare Bruchſtücke aus Fabeln geweſen; ſo τέττιγες χαμόθεν ᾄδωσιν<lb/> des Steſichoros, oder τέττιγα δ̕ εἴληφας πτεροῦ des Archilochos und das πόλλ̕<lb/> οἰδ̕ ἀλώπηξ deſſelben.</note>,<lb/> noch wichtiger, daß durch die Verſchiedenheit der Länder, in denen die<lb/> Sagen ſpielen, auch in die <hi rendition="#aq">dramatis personae</hi> einige Verſchiedenheit<lb/> kommt. So hat <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118542257">J. <hi rendition="#g">Grimm</hi></persName> nachgewieſen, daß die deutſche Vorſtel-<lb/> lung im zehnten Jahrhundert das Königthum über die Thiere nicht<lb/> dem Löwen, ſondern dem heimiſchen Bären beilegte, welcher entſprechend<lb/> auch im finniſchen Epos Kalevala eine hervorragende Stellung ein-<lb/> nimmt. Ferner ſind in der indiſchen Fabel Schakale Stellvertreter des<lb/> Fuchſes, wenn auch nicht mit gleich treuer Charakterzeichnung. Im<lb/> Hitopadeſa wird der Eſel in eine Tigerhaut geſteckt. Es gehen aber auch<lb/> in den ſpäteren occidentaliſchen Thierfabeln Wolf und Fuchs häufig<lb/> durcheinander, wie ihre Namen <note xml:id="seg2pn_4_1" next="#seg2pn_4_2" place="foot" n="23)">So enthalten die <hi rendition="#aq">Narrationes</hi> des <hi rendition="#aq">Odo de Ciringtonia (Shirton)</hi> eine<lb/> Fabel von Iſegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (<hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118542257">Grimm</persName></hi>, Reinhart Fuchs, Ein-<lb/> leitung, <hi rendition="#aq">p. CCXXI,</hi> und Lemcke's Jahrb. für romaniſche u. engl. Literatur, 9. Bd.</note>. Zu bemerken iſt endlich, daß nicht<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0032]
3. Alter und Verbreitung der Thierfabel.
den beiden Fiſchen, deren Namen ſchon, Vorſicht und Schlauheit, die
allegoriſche Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel iſt ein
didaktiſcher. Reiner hat ſich die individualiſirende, an die entſprechende
Charakteriſtik einzelner Thiere anſchließende Form bei den Griechen er-
halten. Erſcheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen
noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall,
welche in den Erga des Heſiod (V. 200-210) erzählt wird, ſo finden
ſich doch hier ſchon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit
erſcheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden
erwachſenden Thierepos werden.
Es wäre überflüſſig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu
erinnern, welcher zwar nicht ausſchließlich deutſch, aber doch in deut-
ſchen Grenzgebieten entſtanden iſt. Wichtig iſt, daß in etwas anderer
Form einzelne Züge ſchon früher ſprüchwörtlich verbreitet waren 22),
noch wichtiger, daß durch die Verſchiedenheit der Länder, in denen die
Sagen ſpielen, auch in die dramatis personae einige Verſchiedenheit
kommt. So hat J. Grimm nachgewieſen, daß die deutſche Vorſtel-
lung im zehnten Jahrhundert das Königthum über die Thiere nicht
dem Löwen, ſondern dem heimiſchen Bären beilegte, welcher entſprechend
auch im finniſchen Epos Kalevala eine hervorragende Stellung ein-
nimmt. Ferner ſind in der indiſchen Fabel Schakale Stellvertreter des
Fuchſes, wenn auch nicht mit gleich treuer Charakterzeichnung. Im
Hitopadeſa wird der Eſel in eine Tigerhaut geſteckt. Es gehen aber auch
in den ſpäteren occidentaliſchen Thierfabeln Wolf und Fuchs häufig
durcheinander, wie ihre Namen 23). Zu bemerken iſt endlich, daß nicht
22) Manches erinnert hierbei an die naturwüchſige Derbheit unſerer heutigen,
beſonders niederdeutſchen Sprüchwörter; ſo eins der Skolien des Alkaios (16.
Fragm.): „Geradezu muß der Freund ſein und keine Schliche machen, ſagte der
Krebs und packte die Schlange mit der Scheere“. Andre Redensarten ſind gelegent-
lich verwendbare Bruchſtücke aus Fabeln geweſen; ſo τέττιγες χαμόθεν ᾄδωσιν
des Steſichoros, oder τέττιγα δ̕ εἴληφας πτεροῦ des Archilochos und das πόλλ̕
οἰδ̕ ἀλώπηξ deſſelben.
23) So enthalten die Narrationes des Odo de Ciringtonia (Shirton) eine
Fabel von Iſegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (Grimm, Reinhart Fuchs, Ein-
leitung, p. CCXXI, und Lemcke's Jahrb. für romaniſche u. engl. Literatur, 9. Bd.
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