Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Periode der Systematik.
Merkmalen zu nehmen. Die vergleichsweise einfachere und man möchte
sagen durchsichtigere Organisation der Pflanzen, für welche er einerseits
sein so consequent durchgeführtes Sexualsystem aufstellte, während er
andererseits mit der Aufzählung einer Anzahl von Familien dem be-
sonders von französischen Botanikern erhobenen Anspruch an ein natür-
liches System zu genügen suchte, scheint ihn verleitet zu haben, sich
auch bei den Thieren durch allgemeine Erscheinung und durch äußerlich
zugängliche Merkmale bestimmen zu lassen, ohne jedoch eine Correlation
der letzteren mit anderen Organisationseigenthümlichkeiten irgendwie
hervorzuheben. Der Einordnung der Walthiere in die Classe der
Säugethiere als einer scheinbar für seinen anatomischen Blick sprechen-
den Thatsache steht die andere noch schwerer wiegende entgegen, daß
er eine Gruppe "schwimmender Amphibien" für entschiedene Fische auf-
gestellt hat, gegen welche Gruppirung sich wohl zuerst Pallas ausge-
sprochen hat. Ganz ähnliche Verstöße, sogar im Widerstreit mit ana-
tomischen Thatsachen, die ihm hätten bekannt sein müssen, für welche
er sich also nicht bloß auf das Zeugniß eines fernen Beobachters zu
verlassen brauchte, kommen auch in andern Gruppen vor und sprechen
dafür, daß Linne theils selbst sich nur auf dem Wege zu einer allge-
meinen morphologischen Erfassung des Thierreichs befand, theils durch
seine formale Methode der Systematisirung dem Durchbruch einer
solchen vorgearbeitet hat. Hiermit hängt auch zusammen, daß dem
Linne eine geschichtliche, um nicht zu sagen genetische Betrachtung des
Thierreichs fern lag. Er hatte nicht bloß in der von ihm so eingehend
durchmessenen Litteratur Schilderungen vieler Versteinerungen gefunden,
sondern auch selbst eine Anzahl derselben zu sehen und zu untersuchen
Gelegenheit gehabt. Aber trotz seiner sich allmählich immer weiter
ausdehnenden Bekanntschaft mit thierischen Formen und ihrer Verbrei-
tung hat er doch bis zuletzt diesen Fossilien gegenüber den von ihm bei
der ersten Ausgabe des Natursystems eingenommenen Standpunkt bei-
behalten, erklärt sich allerdings dafür, daß es wirkliche Versteinerungen
und keine Naturspiele sind, führt sie aber in seinem Mineral- und nicht
im Pflanzen- oder Thiersystem unter der Classe Fossilia nur als Ord-
nung Petrificata neben den Concreta und den Terrae auf.


Periode der Syſtematik.
Merkmalen zu nehmen. Die vergleichsweiſe einfachere und man möchte
ſagen durchſichtigere Organiſation der Pflanzen, für welche er einerſeits
ſein ſo conſequent durchgeführtes Sexualſyſtem aufſtellte, während er
andererſeits mit der Aufzählung einer Anzahl von Familien dem be-
ſonders von franzöſiſchen Botanikern erhobenen Anſpruch an ein natür-
liches Syſtem zu genügen ſuchte, ſcheint ihn verleitet zu haben, ſich
auch bei den Thieren durch allgemeine Erſcheinung und durch äußerlich
zugängliche Merkmale beſtimmen zu laſſen, ohne jedoch eine Correlation
der letzteren mit anderen Organiſationseigenthümlichkeiten irgendwie
hervorzuheben. Der Einordnung der Walthiere in die Claſſe der
Säugethiere als einer ſcheinbar für ſeinen anatomiſchen Blick ſprechen-
den Thatſache ſteht die andere noch ſchwerer wiegende entgegen, daß
er eine Gruppe „ſchwimmender Amphibien“ für entſchiedene Fiſche auf-
geſtellt hat, gegen welche Gruppirung ſich wohl zuerſt Pallas ausge-
ſprochen hat. Ganz ähnliche Verſtöße, ſogar im Widerſtreit mit ana-
tomiſchen Thatſachen, die ihm hätten bekannt ſein müſſen, für welche
er ſich alſo nicht bloß auf das Zeugniß eines fernen Beobachters zu
verlaſſen brauchte, kommen auch in andern Gruppen vor und ſprechen
dafür, daß Linné theils ſelbſt ſich nur auf dem Wege zu einer allge-
meinen morphologiſchen Erfaſſung des Thierreichs befand, theils durch
ſeine formale Methode der Syſtematiſirung dem Durchbruch einer
ſolchen vorgearbeitet hat. Hiermit hängt auch zuſammen, daß dem
Linné eine geſchichtliche, um nicht zu ſagen genetiſche Betrachtung des
Thierreichs fern lag. Er hatte nicht bloß in der von ihm ſo eingehend
durchmeſſenen Litteratur Schilderungen vieler Verſteinerungen gefunden,
ſondern auch ſelbſt eine Anzahl derſelben zu ſehen und zu unterſuchen
Gelegenheit gehabt. Aber trotz ſeiner ſich allmählich immer weiter
ausdehnenden Bekanntſchaft mit thieriſchen Formen und ihrer Verbrei-
tung hat er doch bis zuletzt dieſen Foſſilien gegenüber den von ihm bei
der erſten Ausgabe des Naturſyſtems eingenommenen Standpunkt bei-
behalten, erklärt ſich allerdings dafür, daß es wirkliche Verſteinerungen
und keine Naturſpiele ſind, führt ſie aber in ſeinem Mineral- und nicht
im Pflanzen- oder Thierſyſtem unter der Claſſe Fossilia nur als Ord-
nung Petrificata neben den Concreta und den Terrae auf.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0531" n="520"/><fw place="top" type="header">Periode der Sy&#x017F;tematik.</fw><lb/>
Merkmalen zu nehmen. Die vergleichswei&#x017F;e einfachere und man möchte<lb/>
&#x017F;agen durch&#x017F;ichtigere Organi&#x017F;ation der Pflanzen, für welche er einer&#x017F;eits<lb/>
&#x017F;ein &#x017F;o con&#x017F;equent durchgeführtes Sexual&#x017F;y&#x017F;tem auf&#x017F;tellte, während er<lb/>
anderer&#x017F;eits mit der Aufzählung einer Anzahl von Familien dem be-<lb/>
&#x017F;onders von franzö&#x017F;i&#x017F;chen Botanikern erhobenen An&#x017F;pruch an ein natür-<lb/>
liches Sy&#x017F;tem zu genügen &#x017F;uchte, &#x017F;cheint ihn verleitet zu haben, &#x017F;ich<lb/>
auch bei den Thieren durch allgemeine Er&#x017F;cheinung und durch äußerlich<lb/>
zugängliche Merkmale be&#x017F;timmen zu la&#x017F;&#x017F;en, ohne jedoch eine Correlation<lb/>
der letzteren mit anderen Organi&#x017F;ationseigenthümlichkeiten irgendwie<lb/>
hervorzuheben. Der Einordnung der Walthiere in die Cla&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
Säugethiere als einer &#x017F;cheinbar für &#x017F;einen anatomi&#x017F;chen Blick &#x017F;prechen-<lb/>
den That&#x017F;ache &#x017F;teht die andere noch &#x017F;chwerer wiegende entgegen, daß<lb/>
er eine Gruppe &#x201E;&#x017F;chwimmender Amphibien&#x201C; für ent&#x017F;chiedene Fi&#x017F;che auf-<lb/>
ge&#x017F;tellt hat, gegen welche Gruppirung &#x017F;ich wohl zuer&#x017F;t <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118591371">Pallas</persName></hi> ausge-<lb/>
&#x017F;prochen hat. Ganz ähnliche Ver&#x017F;töße, &#x017F;ogar im Wider&#x017F;treit mit ana-<lb/>
tomi&#x017F;chen That&#x017F;achen, die ihm hätten bekannt &#x017F;ein mü&#x017F;&#x017F;en, für welche<lb/>
er &#x017F;ich al&#x017F;o nicht bloß auf das Zeugniß eines fernen Beobachters zu<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en brauchte, kommen auch in andern Gruppen vor und &#x017F;prechen<lb/>
dafür, daß <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118573349">Linné</persName> theils &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich nur auf dem Wege zu einer allge-<lb/>
meinen morphologi&#x017F;chen Erfa&#x017F;&#x017F;ung des Thierreichs befand, theils durch<lb/>
&#x017F;eine formale Methode der Sy&#x017F;temati&#x017F;irung dem Durchbruch einer<lb/>
&#x017F;olchen vorgearbeitet hat. Hiermit hängt auch zu&#x017F;ammen, daß dem<lb/><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118573349">Linné</persName> eine ge&#x017F;chichtliche, um nicht zu &#x017F;agen geneti&#x017F;che Betrachtung des<lb/>
Thierreichs fern lag. Er hatte nicht bloß in der von ihm &#x017F;o eingehend<lb/>
durchme&#x017F;&#x017F;enen Litteratur Schilderungen vieler Ver&#x017F;teinerungen gefunden,<lb/>
&#x017F;ondern auch &#x017F;elb&#x017F;t eine Anzahl der&#x017F;elben zu &#x017F;ehen und zu unter&#x017F;uchen<lb/>
Gelegenheit gehabt. Aber trotz &#x017F;einer &#x017F;ich allmählich immer weiter<lb/>
ausdehnenden Bekannt&#x017F;chaft mit thieri&#x017F;chen Formen und ihrer Verbrei-<lb/>
tung hat er doch bis zuletzt die&#x017F;en Fo&#x017F;&#x017F;ilien gegenüber den von ihm bei<lb/>
der er&#x017F;ten Ausgabe des Natur&#x017F;y&#x017F;tems eingenommenen Standpunkt bei-<lb/>
behalten, erklärt &#x017F;ich allerdings dafür, daß es wirkliche Ver&#x017F;teinerungen<lb/>
und keine Natur&#x017F;piele &#x017F;ind, führt &#x017F;ie aber in &#x017F;einem Mineral- und nicht<lb/>
im Pflanzen- oder Thier&#x017F;y&#x017F;tem unter der Cla&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#aq">Fossilia</hi> nur als Ord-<lb/>
nung <hi rendition="#aq">Petrificata</hi> neben den <hi rendition="#aq">Concreta</hi> und den <hi rendition="#aq">Terrae</hi> auf.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[520/0531] Periode der Syſtematik. Merkmalen zu nehmen. Die vergleichsweiſe einfachere und man möchte ſagen durchſichtigere Organiſation der Pflanzen, für welche er einerſeits ſein ſo conſequent durchgeführtes Sexualſyſtem aufſtellte, während er andererſeits mit der Aufzählung einer Anzahl von Familien dem be- ſonders von franzöſiſchen Botanikern erhobenen Anſpruch an ein natür- liches Syſtem zu genügen ſuchte, ſcheint ihn verleitet zu haben, ſich auch bei den Thieren durch allgemeine Erſcheinung und durch äußerlich zugängliche Merkmale beſtimmen zu laſſen, ohne jedoch eine Correlation der letzteren mit anderen Organiſationseigenthümlichkeiten irgendwie hervorzuheben. Der Einordnung der Walthiere in die Claſſe der Säugethiere als einer ſcheinbar für ſeinen anatomiſchen Blick ſprechen- den Thatſache ſteht die andere noch ſchwerer wiegende entgegen, daß er eine Gruppe „ſchwimmender Amphibien“ für entſchiedene Fiſche auf- geſtellt hat, gegen welche Gruppirung ſich wohl zuerſt Pallas ausge- ſprochen hat. Ganz ähnliche Verſtöße, ſogar im Widerſtreit mit ana- tomiſchen Thatſachen, die ihm hätten bekannt ſein müſſen, für welche er ſich alſo nicht bloß auf das Zeugniß eines fernen Beobachters zu verlaſſen brauchte, kommen auch in andern Gruppen vor und ſprechen dafür, daß Linné theils ſelbſt ſich nur auf dem Wege zu einer allge- meinen morphologiſchen Erfaſſung des Thierreichs befand, theils durch ſeine formale Methode der Syſtematiſirung dem Durchbruch einer ſolchen vorgearbeitet hat. Hiermit hängt auch zuſammen, daß dem Linné eine geſchichtliche, um nicht zu ſagen genetiſche Betrachtung des Thierreichs fern lag. Er hatte nicht bloß in der von ihm ſo eingehend durchmeſſenen Litteratur Schilderungen vieler Verſteinerungen gefunden, ſondern auch ſelbſt eine Anzahl derſelben zu ſehen und zu unterſuchen Gelegenheit gehabt. Aber trotz ſeiner ſich allmählich immer weiter ausdehnenden Bekanntſchaft mit thieriſchen Formen und ihrer Verbrei- tung hat er doch bis zuletzt dieſen Foſſilien gegenüber den von ihm bei der erſten Ausgabe des Naturſyſtems eingenommenen Standpunkt bei- behalten, erklärt ſich allerdings dafür, daß es wirkliche Verſteinerungen und keine Naturſpiele ſind, führt ſie aber in ſeinem Mineral- und nicht im Pflanzen- oder Thierſyſtem unter der Claſſe Fossilia nur als Ord- nung Petrificata neben den Concreta und den Terrae auf.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/531
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/531>, abgerufen am 15.08.2024.