Frägt man nun, was trotz so vieler für die jetzige Wissenschaft auffallender Widersprüche und trotz der schon zu Linne's Zeit wohl zu vermeiden gewesener Fehler seinem Systeme doch einen Einfluß und eine Verbreitung verschafft hat, wie es bis jetzt weder vor noch nach ihm mit irgend einem andern der Fall gewesen ist, so liegt die Haupt- ursache hiervon entschieden in der Vollendung, welche Linne der for- mellen Seite seines Systems gegeben hat; man kann getrost sagen: in dieser allein. Denn wenn Linne auch zuerst manche natürliche Gruppen aufgestellt und charakterisirt hat, so war es doch jene formelle Seite, welche nicht bloß die Möglichkeit und auch die Mittel darbot, jeden Fortschritt in der Erkenntniß der Thierwelt für die weitere allseitige Aufklärung der bereits bekannten Formen zu verwerthen, sondern durch die Strenge, mit welcher jede Form nach den verschiedensten Seiten ihrer Erscheinung, ihres Lebens, ihres Baues behufs der Einordnung derselben in das System geprüft werden mußte, die allmähliche Ver- vollkommnung des Systems und die Umgestaltung desselben zu einem wirklich natürlichen zu bewerkstelligen. Doch hatte das Auftreten eines so schön gegliederten, alle thierischen Formen bequem aufnehmenden systematischen Kunstwerkes für die Wissenschaft außer dem entschieden fördernden Einfluß auch eine bedenkliche Seite. So viele Freunde die Naturgeschichte auch durch die abgerundete Form der Darstellung und Beschreibung, welche Linne's System charakterisirt, gewann, so hielten doch viele Forscher die strenge Methode der Linne'schen formellen Syste- matik für die eigentliche Wissenschaft selbst. Sie haben danach zwar eine Anzahl von Thieren dem Verzeichnisse in vollständiger oder häufig unvollständiger Schilderung zugefügt, aber damit auch jener Auffassung Vorschub geleistet, welche, leider bis in die neueste Zeit herabreichend, in der Bestimmung und Beschreibung der für unveränderlich erklärten Species das einzige Ziel und die eigentliche Aufgabe der Zoologie er- blicken zu müssen meint.
Drohte hiermit die bloße Aeußerlichkeit der Thierschilderungen die eingehendere wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes zu ver- drängen, so erhielt letztere eine bedeutende Kräftigung durch die Leistun- gen zweier Männer, von denen zwar der eine, Buffon, nur zu häufig
Frägt man nun, was trotz ſo vieler für die jetzige Wiſſenſchaft auffallender Widerſprüche und trotz der ſchon zu Linné's Zeit wohl zu vermeiden geweſener Fehler ſeinem Syſteme doch einen Einfluß und eine Verbreitung verſchafft hat, wie es bis jetzt weder vor noch nach ihm mit irgend einem andern der Fall geweſen iſt, ſo liegt die Haupt- urſache hiervon entſchieden in der Vollendung, welche Linné der for- mellen Seite ſeines Syſtems gegeben hat; man kann getroſt ſagen: in dieſer allein. Denn wenn Linné auch zuerſt manche natürliche Gruppen aufgeſtellt und charakteriſirt hat, ſo war es doch jene formelle Seite, welche nicht bloß die Möglichkeit und auch die Mittel darbot, jeden Fortſchritt in der Erkenntniß der Thierwelt für die weitere allſeitige Aufklärung der bereits bekannten Formen zu verwerthen, ſondern durch die Strenge, mit welcher jede Form nach den verſchiedenſten Seiten ihrer Erſcheinung, ihres Lebens, ihres Baues behufs der Einordnung derſelben in das Syſtem geprüft werden mußte, die allmähliche Ver- vollkommnung des Syſtems und die Umgeſtaltung deſſelben zu einem wirklich natürlichen zu bewerkſtelligen. Doch hatte das Auftreten eines ſo ſchön gegliederten, alle thieriſchen Formen bequem aufnehmenden ſyſtematiſchen Kunſtwerkes für die Wiſſenſchaft außer dem entſchieden fördernden Einfluß auch eine bedenkliche Seite. So viele Freunde die Naturgeſchichte auch durch die abgerundete Form der Darſtellung und Beſchreibung, welche Linné's Syſtem charakteriſirt, gewann, ſo hielten doch viele Forſcher die ſtrenge Methode der Linné'ſchen formellen Syſte- matik für die eigentliche Wiſſenſchaft ſelbſt. Sie haben danach zwar eine Anzahl von Thieren dem Verzeichniſſe in vollſtändiger oder häufig unvollſtändiger Schilderung zugefügt, aber damit auch jener Auffaſſung Vorſchub geleiſtet, welche, leider bis in die neueſte Zeit herabreichend, in der Beſtimmung und Beſchreibung der für unveränderlich erklärten Species das einzige Ziel und die eigentliche Aufgabe der Zoologie er- blicken zu müſſen meint.
Drohte hiermit die bloße Aeußerlichkeit der Thierſchilderungen die eingehendere wiſſenſchaftliche Behandlung des Gegenſtandes zu ver- drängen, ſo erhielt letztere eine bedeutende Kräftigung durch die Leiſtun- gen zweier Männer, von denen zwar der eine, Buffon, nur zu häufig
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[521/0532]
Carl von Linné.
Frägt man nun, was trotz ſo vieler für die jetzige Wiſſenſchaft
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vermeiden geweſener Fehler ſeinem Syſteme doch einen Einfluß und
eine Verbreitung verſchafft hat, wie es bis jetzt weder vor noch nach
ihm mit irgend einem andern der Fall geweſen iſt, ſo liegt die Haupt-
urſache hiervon entſchieden in der Vollendung, welche Linné der for-
mellen Seite ſeines Syſtems gegeben hat; man kann getroſt ſagen: in
dieſer allein. Denn wenn Linné auch zuerſt manche natürliche Gruppen
aufgeſtellt und charakteriſirt hat, ſo war es doch jene formelle Seite,
welche nicht bloß die Möglichkeit und auch die Mittel darbot, jeden
Fortſchritt in der Erkenntniß der Thierwelt für die weitere allſeitige
Aufklärung der bereits bekannten Formen zu verwerthen, ſondern durch
die Strenge, mit welcher jede Form nach den verſchiedenſten Seiten
ihrer Erſcheinung, ihres Lebens, ihres Baues behufs der Einordnung
derſelben in das Syſtem geprüft werden mußte, die allmähliche Ver-
vollkommnung des Syſtems und die Umgeſtaltung deſſelben zu einem
wirklich natürlichen zu bewerkſtelligen. Doch hatte das Auftreten eines
ſo ſchön gegliederten, alle thieriſchen Formen bequem aufnehmenden
ſyſtematiſchen Kunſtwerkes für die Wiſſenſchaft außer dem entſchieden
fördernden Einfluß auch eine bedenkliche Seite. So viele Freunde die
Naturgeſchichte auch durch die abgerundete Form der Darſtellung und
Beſchreibung, welche Linné's Syſtem charakteriſirt, gewann, ſo hielten
doch viele Forſcher die ſtrenge Methode der Linné'ſchen formellen Syſte-
matik für die eigentliche Wiſſenſchaft ſelbſt. Sie haben danach zwar
eine Anzahl von Thieren dem Verzeichniſſe in vollſtändiger oder häufig
unvollſtändiger Schilderung zugefügt, aber damit auch jener Auffaſſung
Vorſchub geleiſtet, welche, leider bis in die neueſte Zeit herabreichend,
in der Beſtimmung und Beſchreibung der für unveränderlich erklärten
Species das einzige Ziel und die eigentliche Aufgabe der Zoologie er-
blicken zu müſſen meint.
Drohte hiermit die bloße Aeußerlichkeit der Thierſchilderungen die
eingehendere wiſſenſchaftliche Behandlung des Gegenſtandes zu ver-
drängen, ſo erhielt letztere eine bedeutende Kräftigung durch die Leiſtun-
gen zweier Männer, von denen zwar der eine, Buffon, nur zu häufig
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 521. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/532>, abgerufen am 22.11.2024.
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