Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Die deutsche Naturphilosophie.
lichen gehörig unterrichtet gewesen wäre, und daß die sich je hieraus
ergebenden angemessenen Vorstellungen in logischer Ordnung verwendet
und durch eine gesunde Dialektik zu einem System verbunden worden
wären. Die erste dieser Bedingungen war noch nicht erfüllt, wie ja
auch heute das Wesen ganzer Classen von Vorgängen noch in Dunkel
gehüllt ist. Zur Zeit aber, als Schelling mit seiner Naturphilosophie
hervortrat, ahnte man von vielen, jetzt wenigstens mit Sicherheit als
gesetzmäßig erkannten Naturerscheinungen nur einen nicht näher zu be-
stimmenden Zusammenhang mit den allgemeinen Naturgesetzen. Eine
Naturphilosophie in dem weiten Umfange und mit dem Inhalte und der
Form, wie sie Schelling sich dachte, war also zu seiner Zeit verfrüht,
wie sie auch heute noch nicht gegeben werden könnte. Eine solche würde
überhaupt erst möglich sein, wenn man Alles wüßte. Sie konnte aber
schon damals nicht einmal eine heuristische Bedeutung beanspruchen, da
sie zu viel auf einmal beweisen wollte und die erfundenen Grundsätze
weder logisch entwickelt waren noch der Natur des zu Erklärenden oder
Abzuleitenden entsprachen.

Es lag nun auch weder in dem Entwickelungsgange sämmtlicher
Naturwissenszweige, über ihren Bereich hinaus alle Naturerscheinun-
gen geistig zu umfassen, noch lag eine Anregung hierzu in irgend einer
außerordentlichen Leistung etwa eines besondern Zweiges. Der Anstoß
kam vielmehr lediglich von philosophischer Seite her. Der alte Wider-
streit zwischen der sinnesanschaulich erkannten Wirklichkeit der Gegen-
stände und der nur vernünftig bestimmbaren, nur denkend erkannten
nothwendigen Wahrheit wirkte noch immer fort. Aristoteles hatte schon
gezeigt, daß man mit dem Denken des unveränderlichen Nothwendigen,
worin Plato die Wahrheit der menschlichen Erkenntniß suchte, nie auf
die Wirklichkeit komme, weil nur das Allgemeine nothwendig wahr ist,
dieses aber als etwas Abstractes nicht für sich besteht. Die inductiven
Wissenschaften zeigten zwar, daß die Wahrheit in der Unterordnung des
Wirklichen unter das Nothwendige liege; es kann aber die Induction
nur auf Lehrsätze führen und keine nothwendigen Wahrheiten finden.
Nun schrieb freilich Locke sämmtlichen Vorstellungen einen empirischen
Ursprung zu, er vernachlässigte aber den Nachweis des Zusammen-

V. Carus, Gesch. d. Zool. 37

Die deutſche Naturphiloſophie.
lichen gehörig unterrichtet geweſen wäre, und daß die ſich je hieraus
ergebenden angemeſſenen Vorſtellungen in logiſcher Ordnung verwendet
und durch eine geſunde Dialektik zu einem Syſtem verbunden worden
wären. Die erſte dieſer Bedingungen war noch nicht erfüllt, wie ja
auch heute das Weſen ganzer Claſſen von Vorgängen noch in Dunkel
gehüllt iſt. Zur Zeit aber, als Schelling mit ſeiner Naturphiloſophie
hervortrat, ahnte man von vielen, jetzt wenigſtens mit Sicherheit als
geſetzmäßig erkannten Naturerſcheinungen nur einen nicht näher zu be-
ſtimmenden Zuſammenhang mit den allgemeinen Naturgeſetzen. Eine
Naturphiloſophie in dem weiten Umfange und mit dem Inhalte und der
Form, wie ſie Schelling ſich dachte, war alſo zu ſeiner Zeit verfrüht,
wie ſie auch heute noch nicht gegeben werden könnte. Eine ſolche würde
überhaupt erſt möglich ſein, wenn man Alles wüßte. Sie konnte aber
ſchon damals nicht einmal eine heuriſtiſche Bedeutung beanſpruchen, da
ſie zu viel auf einmal beweiſen wollte und die erfundenen Grundſätze
weder logiſch entwickelt waren noch der Natur des zu Erklärenden oder
Abzuleitenden entſprachen.

Es lag nun auch weder in dem Entwickelungsgange ſämmtlicher
Naturwiſſenszweige, über ihren Bereich hinaus alle Naturerſcheinun-
gen geiſtig zu umfaſſen, noch lag eine Anregung hierzu in irgend einer
außerordentlichen Leiſtung etwa eines beſondern Zweiges. Der Anſtoß
kam vielmehr lediglich von philoſophiſcher Seite her. Der alte Wider-
ſtreit zwiſchen der ſinnesanſchaulich erkannten Wirklichkeit der Gegen-
ſtände und der nur vernünftig beſtimmbaren, nur denkend erkannten
nothwendigen Wahrheit wirkte noch immer fort. Ariſtoteles hatte ſchon
gezeigt, daß man mit dem Denken des unveränderlichen Nothwendigen,
worin Plato die Wahrheit der menſchlichen Erkenntniß ſuchte, nie auf
die Wirklichkeit komme, weil nur das Allgemeine nothwendig wahr iſt,
dieſes aber als etwas Abſtractes nicht für ſich beſteht. Die inductiven
Wiſſenſchaften zeigten zwar, daß die Wahrheit in der Unterordnung des
Wirklichen unter das Nothwendige liege; es kann aber die Induction
nur auf Lehrſätze führen und keine nothwendigen Wahrheiten finden.
Nun ſchrieb freilich Locke ſämmtlichen Vorſtellungen einen empiriſchen
Urſprung zu, er vernachläſſigte aber den Nachweis des Zuſammen-

V. Carus, Geſch. d. Zool. 37
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0588" n="577"/><fw place="top" type="header">Die deut&#x017F;che Naturphilo&#x017F;ophie.</fw><lb/>
lichen gehörig unterrichtet gewe&#x017F;en wäre, und daß die &#x017F;ich je hieraus<lb/>
ergebenden angeme&#x017F;&#x017F;enen Vor&#x017F;tellungen in logi&#x017F;cher Ordnung verwendet<lb/>
und durch eine ge&#x017F;unde Dialektik zu einem Sy&#x017F;tem verbunden worden<lb/>
wären. Die er&#x017F;te die&#x017F;er Bedingungen war noch nicht erfüllt, wie ja<lb/>
auch heute das We&#x017F;en ganzer Cla&#x017F;&#x017F;en von Vorgängen noch in Dunkel<lb/>
gehüllt i&#x017F;t. Zur Zeit aber, als <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118607057">Schelling</persName> mit &#x017F;einer Naturphilo&#x017F;ophie<lb/>
hervortrat, ahnte man von vielen, jetzt wenig&#x017F;tens mit Sicherheit als<lb/>
ge&#x017F;etzmäßig erkannten Naturer&#x017F;cheinungen nur einen nicht näher zu be-<lb/>
&#x017F;timmenden Zu&#x017F;ammenhang mit den allgemeinen Naturge&#x017F;etzen. Eine<lb/>
Naturphilo&#x017F;ophie in dem weiten Umfange und mit dem Inhalte und der<lb/>
Form, wie &#x017F;ie <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118607057">Schelling</persName> &#x017F;ich dachte, war al&#x017F;o zu &#x017F;einer Zeit verfrüht,<lb/>
wie &#x017F;ie auch heute noch nicht gegeben werden könnte. Eine &#x017F;olche würde<lb/>
überhaupt er&#x017F;t möglich &#x017F;ein, wenn man Alles wüßte. Sie konnte aber<lb/>
&#x017F;chon damals nicht einmal eine heuri&#x017F;ti&#x017F;che Bedeutung bean&#x017F;pruchen, da<lb/>
&#x017F;ie zu viel auf einmal bewei&#x017F;en wollte und die erfundenen Grund&#x017F;ätze<lb/>
weder logi&#x017F;ch entwickelt waren noch der Natur des zu Erklärenden oder<lb/>
Abzuleitenden ent&#x017F;prachen.</p><lb/>
          <p>Es lag nun auch weder in dem Entwickelungsgange &#x017F;ämmtlicher<lb/>
Naturwi&#x017F;&#x017F;enszweige, über ihren Bereich hinaus alle Naturer&#x017F;cheinun-<lb/>
gen gei&#x017F;tig zu umfa&#x017F;&#x017F;en, noch lag eine Anregung hierzu in irgend einer<lb/>
außerordentlichen Lei&#x017F;tung etwa eines be&#x017F;ondern Zweiges. Der An&#x017F;toß<lb/>
kam vielmehr lediglich von philo&#x017F;ophi&#x017F;cher Seite her. Der alte Wider-<lb/>
&#x017F;treit zwi&#x017F;chen der &#x017F;innesan&#x017F;chaulich erkannten Wirklichkeit der Gegen-<lb/>
&#x017F;tände und der nur vernünftig be&#x017F;timmbaren, nur denkend erkannten<lb/>
nothwendigen Wahrheit wirkte noch immer fort. <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName> hatte &#x017F;chon<lb/>
gezeigt, daß man mit dem Denken des unveränderlichen Nothwendigen,<lb/>
worin <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118594893">Plato</persName> die Wahrheit der men&#x017F;chlichen Erkenntniß &#x017F;uchte, nie auf<lb/>
die Wirklichkeit komme, weil nur das Allgemeine nothwendig wahr i&#x017F;t,<lb/>
die&#x017F;es aber als etwas Ab&#x017F;tractes nicht für &#x017F;ich be&#x017F;teht. Die inductiven<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften zeigten zwar, daß die Wahrheit in der Unterordnung des<lb/>
Wirklichen unter das Nothwendige liege; es kann aber die Induction<lb/>
nur auf Lehr&#x017F;ätze führen und keine nothwendigen Wahrheiten finden.<lb/>
Nun &#x017F;chrieb freilich <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118573748">Locke</persName> &#x017F;ämmtlichen Vor&#x017F;tellungen einen empiri&#x017F;chen<lb/>
Ur&#x017F;prung zu, er vernachlä&#x017F;&#x017F;igte aber den Nachweis des Zu&#x017F;ammen-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/104288647">V. <hi rendition="#g">Carus</hi></persName>, Ge&#x017F;ch. d. Zool. 37</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[577/0588] Die deutſche Naturphiloſophie. lichen gehörig unterrichtet geweſen wäre, und daß die ſich je hieraus ergebenden angemeſſenen Vorſtellungen in logiſcher Ordnung verwendet und durch eine geſunde Dialektik zu einem Syſtem verbunden worden wären. Die erſte dieſer Bedingungen war noch nicht erfüllt, wie ja auch heute das Weſen ganzer Claſſen von Vorgängen noch in Dunkel gehüllt iſt. Zur Zeit aber, als Schelling mit ſeiner Naturphiloſophie hervortrat, ahnte man von vielen, jetzt wenigſtens mit Sicherheit als geſetzmäßig erkannten Naturerſcheinungen nur einen nicht näher zu be- ſtimmenden Zuſammenhang mit den allgemeinen Naturgeſetzen. Eine Naturphiloſophie in dem weiten Umfange und mit dem Inhalte und der Form, wie ſie Schelling ſich dachte, war alſo zu ſeiner Zeit verfrüht, wie ſie auch heute noch nicht gegeben werden könnte. Eine ſolche würde überhaupt erſt möglich ſein, wenn man Alles wüßte. Sie konnte aber ſchon damals nicht einmal eine heuriſtiſche Bedeutung beanſpruchen, da ſie zu viel auf einmal beweiſen wollte und die erfundenen Grundſätze weder logiſch entwickelt waren noch der Natur des zu Erklärenden oder Abzuleitenden entſprachen. Es lag nun auch weder in dem Entwickelungsgange ſämmtlicher Naturwiſſenszweige, über ihren Bereich hinaus alle Naturerſcheinun- gen geiſtig zu umfaſſen, noch lag eine Anregung hierzu in irgend einer außerordentlichen Leiſtung etwa eines beſondern Zweiges. Der Anſtoß kam vielmehr lediglich von philoſophiſcher Seite her. Der alte Wider- ſtreit zwiſchen der ſinnesanſchaulich erkannten Wirklichkeit der Gegen- ſtände und der nur vernünftig beſtimmbaren, nur denkend erkannten nothwendigen Wahrheit wirkte noch immer fort. Ariſtoteles hatte ſchon gezeigt, daß man mit dem Denken des unveränderlichen Nothwendigen, worin Plato die Wahrheit der menſchlichen Erkenntniß ſuchte, nie auf die Wirklichkeit komme, weil nur das Allgemeine nothwendig wahr iſt, dieſes aber als etwas Abſtractes nicht für ſich beſteht. Die inductiven Wiſſenſchaften zeigten zwar, daß die Wahrheit in der Unterordnung des Wirklichen unter das Nothwendige liege; es kann aber die Induction nur auf Lehrſätze führen und keine nothwendigen Wahrheiten finden. Nun ſchrieb freilich Locke ſämmtlichen Vorſtellungen einen empiriſchen Urſprung zu, er vernachläſſigte aber den Nachweis des Zuſammen- V. Carus, Geſch. d. Zool. 37

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/588
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/588>, abgerufen am 22.11.2024.