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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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menschlichen Erkenntniß verkannte und mit ihr wie mit einem scharf
bestimmbaren Begriffe verfuhr, mag ebenso wie die Folge seines ganzen
Systems, sich die Anwendbarkeit, ja das Verständniß einer mathemati-
schen Naturlehre unmöglich gemacht zu haben, hier, wo es sich zunächst
um Untersuchung einer möglichen Verwerthbarkeit für, oder eines Ein-
flusses seiner Philosophie auf die Lehren von der thierischen Natur
handeln konnte, nur beiläufig erwähnt werden.

Ganz gleichen Korns ist auch Oken's Naturphilosophie; und was
dieser Mann, welcher ungleich reichere Kenntnisse von der belebten Na-
tur besaß als Schelling, wirklich Anregendes geleistet hat, entspringt
nicht seiner Philosophie, sondern nachweisbar anderen Quellen. Lo-
renz Oken
war 1779 in Bohlsbach in der Ortenau (Baden) geboren,
habilitirte sich in Göttingen, wurde 1807 Professor in Jena, mußte
1819 wegen seiner Zeitschrift Isis seine Professur niederlegen und lebte
dann als Privatmann daselbst. 1827 gieng er nach München, wo er
1828 Professor der Physiologie wurde. Da ihm eine Versetzung an
eine andere bayerische Universität, die ihm weil er auch dort unbequem
wurde bevorstand, nicht zusagte, nahm er 1833 eine Professur in
Zürich an, wo er 1851 starb. Reich an Detailkenntnissen, welche er
sich durch ausgedehnte, aber nie vorurtheilsfrei angestellte Untersuchun-
gen erworben hatte, und mit einer beweglichen Phantasie, dem Erfor-
derniß eines schaffenden Geistes, begabt, gewann er über die Natur-
erscheinungen einen weiten Ueberblick, wurde aber hierdurch zu vor-
schnellen Verallgemeinerungen verleitet, bei denen er sich weder durch
den Mangel an allgemeinen theoretischen Kenntnissen zur Vorsicht, noch
durch Anwendung streng logischen Denkens zur Klarheit der Darstel-
lung bestimmen ließ. Schärfe des philosophischen Gedankens sind bei
ihm so wenig zu finden, wie Methode, wenn man nicht die Consequenz
in der Durchführung seiner phantastischen Grundansichten dafür halten
will. Oken's Vertheidiger sagen ihm noch immer nach, daß seine
"Philosophie" ein "wichtiges Entwickelungsmoment in der vergleichenden
Anatomie" gewesen sei. Dies ist irrig, wie das Folgende zeigt.

Für den denkenden Naturforscher wie für die menschliche Vernunft
allgemein ist nur das Sinnesanschauliche wirklich, die nothwendige

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menſchlichen Erkenntniß verkannte und mit ihr wie mit einem ſcharf
beſtimmbaren Begriffe verfuhr, mag ebenſo wie die Folge ſeines ganzen
Syſtems, ſich die Anwendbarkeit, ja das Verſtändniß einer mathemati-
ſchen Naturlehre unmöglich gemacht zu haben, hier, wo es ſich zunächſt
um Unterſuchung einer möglichen Verwerthbarkeit für, oder eines Ein-
fluſſes ſeiner Philoſophie auf die Lehren von der thieriſchen Natur
handeln konnte, nur beiläufig erwähnt werden.

Ganz gleichen Korns iſt auch Oken's Naturphiloſophie; und was
dieſer Mann, welcher ungleich reichere Kenntniſſe von der belebten Na-
tur beſaß als Schelling, wirklich Anregendes geleiſtet hat, entſpringt
nicht ſeiner Philoſophie, ſondern nachweisbar anderen Quellen. Lo-
renz Oken
war 1779 in Bohlsbach in der Ortenau (Baden) geboren,
habilitirte ſich in Göttingen, wurde 1807 Profeſſor in Jena, mußte
1819 wegen ſeiner Zeitſchrift Iſis ſeine Profeſſur niederlegen und lebte
dann als Privatmann daſelbſt. 1827 gieng er nach München, wo er
1828 Profeſſor der Phyſiologie wurde. Da ihm eine Verſetzung an
eine andere bayeriſche Univerſität, die ihm weil er auch dort unbequem
wurde bevorſtand, nicht zuſagte, nahm er 1833 eine Profeſſur in
Zürich an, wo er 1851 ſtarb. Reich an Detailkenntniſſen, welche er
ſich durch ausgedehnte, aber nie vorurtheilsfrei angeſtellte Unterſuchun-
gen erworben hatte, und mit einer beweglichen Phantaſie, dem Erfor-
derniß eines ſchaffenden Geiſtes, begabt, gewann er über die Natur-
erſcheinungen einen weiten Ueberblick, wurde aber hierdurch zu vor-
ſchnellen Verallgemeinerungen verleitet, bei denen er ſich weder durch
den Mangel an allgemeinen theoretiſchen Kenntniſſen zur Vorſicht, noch
durch Anwendung ſtreng logiſchen Denkens zur Klarheit der Darſtel-
lung beſtimmen ließ. Schärfe des philoſophiſchen Gedankens ſind bei
ihm ſo wenig zu finden, wie Methode, wenn man nicht die Conſequenz
in der Durchführung ſeiner phantaſtiſchen Grundanſichten dafür halten
will. Oken's Vertheidiger ſagen ihm noch immer nach, daß ſeine
„Philoſophie“ ein „wichtiges Entwickelungsmoment in der vergleichenden
Anatomie“ geweſen ſei. Dies iſt irrig, wie das Folgende zeigt.

Für den denkenden Naturforſcher wie für die menſchliche Vernunft
allgemein iſt nur das Sinnesanſchauliche wirklich, die nothwendige

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[579/0590] Oken. menſchlichen Erkenntniß verkannte und mit ihr wie mit einem ſcharf beſtimmbaren Begriffe verfuhr, mag ebenſo wie die Folge ſeines ganzen Syſtems, ſich die Anwendbarkeit, ja das Verſtändniß einer mathemati- ſchen Naturlehre unmöglich gemacht zu haben, hier, wo es ſich zunächſt um Unterſuchung einer möglichen Verwerthbarkeit für, oder eines Ein- fluſſes ſeiner Philoſophie auf die Lehren von der thieriſchen Natur handeln konnte, nur beiläufig erwähnt werden. Ganz gleichen Korns iſt auch Oken's Naturphiloſophie; und was dieſer Mann, welcher ungleich reichere Kenntniſſe von der belebten Na- tur beſaß als Schelling, wirklich Anregendes geleiſtet hat, entſpringt nicht ſeiner Philoſophie, ſondern nachweisbar anderen Quellen. Lo- renz Oken war 1779 in Bohlsbach in der Ortenau (Baden) geboren, habilitirte ſich in Göttingen, wurde 1807 Profeſſor in Jena, mußte 1819 wegen ſeiner Zeitſchrift Iſis ſeine Profeſſur niederlegen und lebte dann als Privatmann daſelbſt. 1827 gieng er nach München, wo er 1828 Profeſſor der Phyſiologie wurde. Da ihm eine Verſetzung an eine andere bayeriſche Univerſität, die ihm weil er auch dort unbequem wurde bevorſtand, nicht zuſagte, nahm er 1833 eine Profeſſur in Zürich an, wo er 1851 ſtarb. Reich an Detailkenntniſſen, welche er ſich durch ausgedehnte, aber nie vorurtheilsfrei angeſtellte Unterſuchun- gen erworben hatte, und mit einer beweglichen Phantaſie, dem Erfor- derniß eines ſchaffenden Geiſtes, begabt, gewann er über die Natur- erſcheinungen einen weiten Ueberblick, wurde aber hierdurch zu vor- ſchnellen Verallgemeinerungen verleitet, bei denen er ſich weder durch den Mangel an allgemeinen theoretiſchen Kenntniſſen zur Vorſicht, noch durch Anwendung ſtreng logiſchen Denkens zur Klarheit der Darſtel- lung beſtimmen ließ. Schärfe des philoſophiſchen Gedankens ſind bei ihm ſo wenig zu finden, wie Methode, wenn man nicht die Conſequenz in der Durchführung ſeiner phantaſtiſchen Grundanſichten dafür halten will. Oken's Vertheidiger ſagen ihm noch immer nach, daß ſeine „Philoſophie“ ein „wichtiges Entwickelungsmoment in der vergleichenden Anatomie“ geweſen ſei. Dies iſt irrig, wie das Folgende zeigt. Für den denkenden Naturforſcher wie für die menſchliche Vernunft allgemein iſt nur das Sinnesanſchauliche wirklich, die nothwendige 37*

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/590>, abgerufen am 22.11.2024.