Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.Periode der Morphologie. schwungs anregend gewirkt. Man fieng an, zu denken. Nur war esein Unglück, daß es gerade eine solche Philosophie war. Da sie absolut unfruchtbar war und höchstens einmal durch Zufall mit einem ihrer Bilder ein wahres Verhältniß zwischen zwei Erscheinungen richtig ge- troffen hatte, verlor sich die geistige Beschäftigung in jene geistreich klingende, aber im Ganzen unverständliche oder trotz ihres scheinbaren Tiefsinns Nichts oder wenigstens nichts Neues und Förderndes enthal- tende Redeweise, wie sie eine bedeutende Anzahl naturgeschichtlicher und medicinischer Werke der ersten vier Jahrzehnte dieses Jahrhunderts aus- zeichnet. Die Causalität, welche ja den thierischen Formen und ihrer Mannichfaltigkeit doch ebenfalls zu Grunde liegen muß, wurde nirgends, auch nicht auf Umwegen heranzuziehn gesucht; dagegen wurde eine höhere ideale Gesetzmäßigkeit gesucht, die "Bedeutung" der Formen und Theile der Thierkörper im "höheren Sinne" untersucht, dabei aber nicht bestimmt, was denn ein Gesetz, was diese Bedeutung oder dieser höhere Sinn eigentlich sei oder zu sagen habe. Endlich ist es auch eine mit diesen Erscheinungen in Verbindung stehende Folge der Oken'schen Philosophie, daß die Lehre von den thierischen Typen so vielfach falsch verstanden und diese Typen sogar als Ursachen der Körperbildung auf- gefaßt wurden. Wenn man von den Anhängern der Schelling-Oken'schen Natur- 4) Franz Jos. Schelver, geb. 1778 in Osnabrück, 1802 in Jena habilitirt
und 1832 in Heidelberg gestorben. Sein 1798 erschienener "Versuch einer Natur- geschichte der Sinneswerkzeuge der Insecten und Würmer" ist eine zwar teleologisch gefärbte, aber doch nüchterne Zusammenstellung der damals bekannten Thatsachen. Seine späteren Schriften sind bis zum Extrem naturphilosophisch. Periode der Morphologie. ſchwungs anregend gewirkt. Man fieng an, zu denken. Nur war esein Unglück, daß es gerade eine ſolche Philoſophie war. Da ſie abſolut unfruchtbar war und höchſtens einmal durch Zufall mit einem ihrer Bilder ein wahres Verhältniß zwiſchen zwei Erſcheinungen richtig ge- troffen hatte, verlor ſich die geiſtige Beſchäftigung in jene geiſtreich klingende, aber im Ganzen unverſtändliche oder trotz ihres ſcheinbaren Tiefſinns Nichts oder wenigſtens nichts Neues und Förderndes enthal- tende Redeweiſe, wie ſie eine bedeutende Anzahl naturgeſchichtlicher und mediciniſcher Werke der erſten vier Jahrzehnte dieſes Jahrhunderts aus- zeichnet. Die Cauſalität, welche ja den thieriſchen Formen und ihrer Mannichfaltigkeit doch ebenfalls zu Grunde liegen muß, wurde nirgends, auch nicht auf Umwegen heranzuziehn geſucht; dagegen wurde eine höhere ideale Geſetzmäßigkeit geſucht, die „Bedeutung“ der Formen und Theile der Thierkörper im „höheren Sinne“ unterſucht, dabei aber nicht beſtimmt, was denn ein Geſetz, was dieſe Bedeutung oder dieſer höhere Sinn eigentlich ſei oder zu ſagen habe. Endlich iſt es auch eine mit dieſen Erſcheinungen in Verbindung ſtehende Folge der Oken'ſchen Philoſophie, daß die Lehre von den thieriſchen Typen ſo vielfach falſch verſtanden und dieſe Typen ſogar als Urſachen der Körperbildung auf- gefaßt wurden. Wenn man von den Anhängern der Schelling-Oken'ſchen Natur- 4) Franz Joſ. Schelver, geb. 1778 in Osnabrück, 1802 in Jena habilitirt
und 1832 in Heidelberg geſtorben. Sein 1798 erſchienener „Verſuch einer Natur- geſchichte der Sinneswerkzeuge der Inſecten und Würmer“ iſt eine zwar teleologiſch gefärbte, aber doch nüchterne Zuſammenſtellung der damals bekannten Thatſachen. Seine ſpäteren Schriften ſind bis zum Extrem naturphiloſophiſch. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0599" n="588"/><fw place="top" type="header">Periode der Morphologie.</fw><lb/> ſchwungs anregend gewirkt. Man fieng an, zu denken. Nur war es<lb/> ein Unglück, daß es gerade eine ſolche Philoſophie war. Da ſie abſolut<lb/> unfruchtbar war und höchſtens einmal durch Zufall mit einem ihrer<lb/> Bilder ein wahres Verhältniß zwiſchen zwei Erſcheinungen richtig ge-<lb/> troffen hatte, verlor ſich die geiſtige Beſchäftigung in jene geiſtreich<lb/> klingende, aber im Ganzen unverſtändliche oder trotz ihres ſcheinbaren<lb/> Tiefſinns Nichts oder wenigſtens nichts Neues und Förderndes enthal-<lb/> tende Redeweiſe, wie ſie eine bedeutende Anzahl naturgeſchichtlicher und<lb/> mediciniſcher Werke der erſten vier Jahrzehnte dieſes Jahrhunderts aus-<lb/> zeichnet. Die Cauſalität, welche ja den thieriſchen Formen und ihrer<lb/> Mannichfaltigkeit doch ebenfalls zu Grunde liegen muß, wurde nirgends,<lb/> auch nicht auf Umwegen heranzuziehn geſucht; dagegen wurde eine<lb/> höhere ideale Geſetzmäßigkeit geſucht, die „Bedeutung“ der Formen<lb/> und Theile der Thierkörper im „höheren Sinne“ unterſucht, dabei aber<lb/> nicht beſtimmt, was denn ein Geſetz, was dieſe Bedeutung oder dieſer<lb/> höhere Sinn eigentlich ſei oder zu ſagen habe. Endlich iſt es auch eine<lb/> mit dieſen Erſcheinungen in Verbindung ſtehende Folge der <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118589717">Oken</persName>'ſchen<lb/> Philoſophie, daß die Lehre von den thieriſchen Typen ſo vielfach falſch<lb/> verſtanden und dieſe Typen ſogar als Urſachen der Körperbildung auf-<lb/> gefaßt wurden.</p><lb/> <p>Wenn man von den Anhängern der <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118607057">Schelling</persName>-<persName ref="http://d-nb.info/gnd/118589717">Oken</persName>'ſchen Natur-<lb/> philoſophie Leute wie <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/119064669">Schelver</persName></hi><note place="foot" n="4)"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/119064669">Franz Joſ. <hi rendition="#g">Schelver</hi></persName>, geb. 1778 in Osnabrück, 1802 in Jena habilitirt<lb/> und 1832 in Heidelberg geſtorben. Sein 1798 erſchienener „Verſuch einer Natur-<lb/> geſchichte der Sinneswerkzeuge der Inſecten und Würmer“ iſt eine zwar teleologiſch<lb/> gefärbte, aber doch nüchterne Zuſammenſtellung der damals bekannten Thatſachen.<lb/> Seine ſpäteren Schriften ſind bis zum Extrem naturphiloſophiſch.</note> u. A. abzieht, welche keinen Ein-<lb/> fluß geäußert haben, ſo treten mit Rückſicht auf die hier beſprochene<lb/> Wiſſenſchaft (alſo mit Ausſchluß der Philoſophen und Mediciner u. ſ. f.)<lb/> die oben erwähnten drei Richtungen in drei Männern auf, welche, ohne<lb/> das ganze Syſtem ſtarr feſtzuhalten, die eigenthümliche Form des<lb/><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118589717">Oken</persName>'ſchen Philoſophirens mit ihren Fehlern mehr oder weniger auf-<lb/> fallend darboten. Repräſentant der myſtiſchen theoſophiſchen Richtung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [588/0599]
Periode der Morphologie.
ſchwungs anregend gewirkt. Man fieng an, zu denken. Nur war es
ein Unglück, daß es gerade eine ſolche Philoſophie war. Da ſie abſolut
unfruchtbar war und höchſtens einmal durch Zufall mit einem ihrer
Bilder ein wahres Verhältniß zwiſchen zwei Erſcheinungen richtig ge-
troffen hatte, verlor ſich die geiſtige Beſchäftigung in jene geiſtreich
klingende, aber im Ganzen unverſtändliche oder trotz ihres ſcheinbaren
Tiefſinns Nichts oder wenigſtens nichts Neues und Förderndes enthal-
tende Redeweiſe, wie ſie eine bedeutende Anzahl naturgeſchichtlicher und
mediciniſcher Werke der erſten vier Jahrzehnte dieſes Jahrhunderts aus-
zeichnet. Die Cauſalität, welche ja den thieriſchen Formen und ihrer
Mannichfaltigkeit doch ebenfalls zu Grunde liegen muß, wurde nirgends,
auch nicht auf Umwegen heranzuziehn geſucht; dagegen wurde eine
höhere ideale Geſetzmäßigkeit geſucht, die „Bedeutung“ der Formen
und Theile der Thierkörper im „höheren Sinne“ unterſucht, dabei aber
nicht beſtimmt, was denn ein Geſetz, was dieſe Bedeutung oder dieſer
höhere Sinn eigentlich ſei oder zu ſagen habe. Endlich iſt es auch eine
mit dieſen Erſcheinungen in Verbindung ſtehende Folge der Oken'ſchen
Philoſophie, daß die Lehre von den thieriſchen Typen ſo vielfach falſch
verſtanden und dieſe Typen ſogar als Urſachen der Körperbildung auf-
gefaßt wurden.
Wenn man von den Anhängern der Schelling-Oken'ſchen Natur-
philoſophie Leute wie Schelver 4) u. A. abzieht, welche keinen Ein-
fluß geäußert haben, ſo treten mit Rückſicht auf die hier beſprochene
Wiſſenſchaft (alſo mit Ausſchluß der Philoſophen und Mediciner u. ſ. f.)
die oben erwähnten drei Richtungen in drei Männern auf, welche, ohne
das ganze Syſtem ſtarr feſtzuhalten, die eigenthümliche Form des
Oken'ſchen Philoſophirens mit ihren Fehlern mehr oder weniger auf-
fallend darboten. Repräſentant der myſtiſchen theoſophiſchen Richtung
4) Franz Joſ. Schelver, geb. 1778 in Osnabrück, 1802 in Jena habilitirt
und 1832 in Heidelberg geſtorben. Sein 1798 erſchienener „Verſuch einer Natur-
geſchichte der Sinneswerkzeuge der Inſecten und Würmer“ iſt eine zwar teleologiſch
gefärbte, aber doch nüchterne Zuſammenſtellung der damals bekannten Thatſachen.
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