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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
Verschiedenheit bedingt, stellt der Römer das Weib mit sich auf eine
Linie. Es giebt keinen schlagenderen Beleg dafür, als das altrömische
Erbrecht, welches zwischen beiden Geschlechtern gar keinen Unter-
schied macht: die Tochter hat genau dasselbe wie der Sohn, die
Agnatin wie der Agnat; sind keine Kinder da, so erhält die Witwe
den ganzen Nachlass und schliesst den Mannesstamm aus, ebenso,
wenn auch sie nicht vorhanden ist, die Schwester. Man muss die
Zurücksetzung, welche das weibliche Geschlecht in den Rechten so
vieler anderer Völker erfahren hat, kennen, um die Bedeutsamkeit
dieses Punktes einzusehen; in Griechenland z. B. schloss der nähere
männliche Verwandte das Weib gänzlich aus, und das Los einer Erb-
tochter war ein geradezu beklagenswertes, der nächste männliche Ver-
wandte konnte sie ihrem Ehemann entziehen." 1) Als Fürstin, princeps
familiae,
wurde die römische Ehefrau im Hause verehrt, und das
römische Gesetz spricht von der matronarum sanctitas, der Heiligkeit
der mit Kindern gesegneten Frauen. Kinder, die sich irgendwie gegen
ihre Eltern vergingen, traf die "Sacertät", d. h. die Ächtung vor
Göttern und Menschen; auf dem Vatermord lag keine Strafe, weil
(so erzählt Plutarch) man dieses Verbrechen für undenkbar hielt, --
in der That währte es über ein halbes Jahrtausend, bis das erste
Parricidium begangen wurde. 2) Um sich diese altrömische Familie
richtig vorzustellen, muss man sich noch eines gegenwärtig machen:
dass nämlich im römischen Leben das sakrale Element, d. h. die
Achtung vor göttlichen Geboten, eine grosse Rolle spielte. War der
Paterfamilias dem menschlichen Rechte nach ein unbeschränkter Despot

1) Jhering: Entwickelungsgeschichte des römischen Rechts, S. 55. Bei den
Germanen sah es nicht besser aus. "Das Erbrecht ist allen Weibern nach
den ältesten deutschen Gesetzen entweder versagt oder beschränkt", meldet Grimm:
Deutsche Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 407. Die Milderungen, die nach und nach
eintraten, sind auf römischen Einfluss zurückzuführen; wo dieser nicht oder wenig
hinreichte, enthalten noch im Mittelalter die deutschen Rechtsbücher "völlige
Hintansetzung"; ganz im Norden, in Skandinavien und im ältesten Friesland,
konnte ein weibliches Wesen überhaupt nichts erben, weder fahrendes, noch
liegendes Gut: "der Mann geht zum Erbe, das Weib davon"; erst im 13. Jahr-
hundert wurde letzterem dort ein beschränktes Erbrecht zugestanden. (Grimm,
S. 473.) Das sind die Rechtsverhältnisse, nach denen die Deutschtümler sich
zurücksehnen!
2) (Romulus, XXIX.) Zum Kontrast diene, dass es bei den Deutschen bis
zur Einführung des Christentums (bei den Wenden sogar bis zum 17. Jahrhundert)
Sitte war, alte, schwache Eltern zu erschlagen! (siehe Grimm: Rechtsaltertümer,
S. 486--490).
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 12

Römisches Recht.
Verschiedenheit bedingt, stellt der Römer das Weib mit sich auf eine
Linie. Es giebt keinen schlagenderen Beleg dafür, als das altrömische
Erbrecht, welches zwischen beiden Geschlechtern gar keinen Unter-
schied macht: die Tochter hat genau dasselbe wie der Sohn, die
Agnatin wie der Agnat; sind keine Kinder da, so erhält die Witwe
den ganzen Nachlass und schliesst den Mannesstamm aus, ebenso,
wenn auch sie nicht vorhanden ist, die Schwester. Man muss die
Zurücksetzung, welche das weibliche Geschlecht in den Rechten so
vieler anderer Völker erfahren hat, kennen, um die Bedeutsamkeit
dieses Punktes einzusehen; in Griechenland z. B. schloss der nähere
männliche Verwandte das Weib gänzlich aus, und das Los einer Erb-
tochter war ein geradezu beklagenswertes, der nächste männliche Ver-
wandte konnte sie ihrem Ehemann entziehen.« 1) Als Fürstin, princeps
familiae,
wurde die römische Ehefrau im Hause verehrt, und das
römische Gesetz spricht von der matronarum sanctitas, der Heiligkeit
der mit Kindern gesegneten Frauen. Kinder, die sich irgendwie gegen
ihre Eltern vergingen, traf die »Sacertät«, d. h. die Ächtung vor
Göttern und Menschen; auf dem Vatermord lag keine Strafe, weil
(so erzählt Plutarch) man dieses Verbrechen für undenkbar hielt, —
in der That währte es über ein halbes Jahrtausend, bis das erste
Parricidium begangen wurde. 2) Um sich diese altrömische Familie
richtig vorzustellen, muss man sich noch eines gegenwärtig machen:
dass nämlich im römischen Leben das sakrale Element, d. h. die
Achtung vor göttlichen Geboten, eine grosse Rolle spielte. War der
Paterfamilias dem menschlichen Rechte nach ein unbeschränkter Despot

1) Jhering: Entwickelungsgeschichte des römischen Rechts, S. 55. Bei den
Germanen sah es nicht besser aus. »Das Erbrecht ist allen Weibern nach
den ältesten deutschen Gesetzen entweder versagt oder beschränkt«, meldet Grimm:
Deutsche Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 407. Die Milderungen, die nach und nach
eintraten, sind auf römischen Einfluss zurückzuführen; wo dieser nicht oder wenig
hinreichte, enthalten noch im Mittelalter die deutschen Rechtsbücher »völlige
Hintansetzung«; ganz im Norden, in Skandinavien und im ältesten Friesland,
konnte ein weibliches Wesen überhaupt nichts erben, weder fahrendes, noch
liegendes Gut: »der Mann geht zum Erbe, das Weib davon«; erst im 13. Jahr-
hundert wurde letzterem dort ein beschränktes Erbrecht zugestanden. (Grimm,
S. 473.) Das sind die Rechtsverhältnisse, nach denen die Deutschtümler sich
zurücksehnen!
2) (Romulus, XXIX.) Zum Kontrast diene, dass es bei den Deutschen bis
zur Einführung des Christentums (bei den Wenden sogar bis zum 17. Jahrhundert)
Sitte war, alte, schwache Eltern zu erschlagen! (siehe Grimm: Rechtsaltertümer,
S. 486—490).
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 12
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[177/0200] Römisches Recht. Verschiedenheit bedingt, stellt der Römer das Weib mit sich auf eine Linie. Es giebt keinen schlagenderen Beleg dafür, als das altrömische Erbrecht, welches zwischen beiden Geschlechtern gar keinen Unter- schied macht: die Tochter hat genau dasselbe wie der Sohn, die Agnatin wie der Agnat; sind keine Kinder da, so erhält die Witwe den ganzen Nachlass und schliesst den Mannesstamm aus, ebenso, wenn auch sie nicht vorhanden ist, die Schwester. Man muss die Zurücksetzung, welche das weibliche Geschlecht in den Rechten so vieler anderer Völker erfahren hat, kennen, um die Bedeutsamkeit dieses Punktes einzusehen; in Griechenland z. B. schloss der nähere männliche Verwandte das Weib gänzlich aus, und das Los einer Erb- tochter war ein geradezu beklagenswertes, der nächste männliche Ver- wandte konnte sie ihrem Ehemann entziehen.« 1) Als Fürstin, princeps familiae, wurde die römische Ehefrau im Hause verehrt, und das römische Gesetz spricht von der matronarum sanctitas, der Heiligkeit der mit Kindern gesegneten Frauen. Kinder, die sich irgendwie gegen ihre Eltern vergingen, traf die »Sacertät«, d. h. die Ächtung vor Göttern und Menschen; auf dem Vatermord lag keine Strafe, weil (so erzählt Plutarch) man dieses Verbrechen für undenkbar hielt, — in der That währte es über ein halbes Jahrtausend, bis das erste Parricidium begangen wurde. 2) Um sich diese altrömische Familie richtig vorzustellen, muss man sich noch eines gegenwärtig machen: dass nämlich im römischen Leben das sakrale Element, d. h. die Achtung vor göttlichen Geboten, eine grosse Rolle spielte. War der Paterfamilias dem menschlichen Rechte nach ein unbeschränkter Despot 1) Jhering: Entwickelungsgeschichte des römischen Rechts, S. 55. Bei den Germanen sah es nicht besser aus. »Das Erbrecht ist allen Weibern nach den ältesten deutschen Gesetzen entweder versagt oder beschränkt«, meldet Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 407. Die Milderungen, die nach und nach eintraten, sind auf römischen Einfluss zurückzuführen; wo dieser nicht oder wenig hinreichte, enthalten noch im Mittelalter die deutschen Rechtsbücher »völlige Hintansetzung«; ganz im Norden, in Skandinavien und im ältesten Friesland, konnte ein weibliches Wesen überhaupt nichts erben, weder fahrendes, noch liegendes Gut: »der Mann geht zum Erbe, das Weib davon«; erst im 13. Jahr- hundert wurde letzterem dort ein beschränktes Erbrecht zugestanden. (Grimm, S. 473.) Das sind die Rechtsverhältnisse, nach denen die Deutschtümler sich zurücksehnen! 2) (Romulus, XXIX.) Zum Kontrast diene, dass es bei den Deutschen bis zur Einführung des Christentums (bei den Wenden sogar bis zum 17. Jahrhundert) Sitte war, alte, schwache Eltern zu erschlagen! (siehe Grimm: Rechtsaltertümer, S. 486—490). Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 12

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/200>, abgerufen am 24.11.2024.