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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.

Was ist das für eine Kunst, die nur zum Verstand, nie zum Herzen
redet? Es kann nur eine künstliche Kunst sein, eine Technik; käme
sie von Herzen, sie würde auch zu Herzen gehen. In Wahrheit stehen
wir hier noch unter französischer Vormundschaft, und die Franzosen
unter syrisch-jüdischer (Boileau-Pseudolonginus); und ist auch wenig
von dieser Erbschaft ins moderne Leben eingedrungen, wir sollten sie
endlich einmal ganz abwerfen zu Gunsten unserer eigenen Dichter in
Worten und in Tönen, gottbegnadeter Männer, deren Werke himmelhoch
alles überragen, was auf dem Schutte des verfallenden Rom wie etiolierte
Pflanzen, in ungesunder Hast, wurzel- und saftlos in die Höhe schoss.

In den Händen des Fachmannes, d. h. des Philologen, wird die
lateinische Poesie ebenso sicher und zweckentsprechend aufgehoben
sein, wie das corpus juris bei den Rechtsforschern. Will man aber
die lateinische Sprache als allgemeines Bildungsmittel durchaus bei-
behalten (anstatt dass man die griechische allein, dafür aber gründlicher,
lehrte), so zeige man sie dort am Werke, wo sie Unvergleichliches
leistet, wo sie, in Übereinstimmung mit der besonderen Anlage des
römischen Volkes und mit seiner historischen Entwickelung das vollbringt,
was nie eine andere Sprache gekonnt hat, noch können wird: beim
plastischen Ausbau rechtlicher Begriffe. Man sagt, die lateinische
Sprache bilde den logischen Sinn; ich will es glauben, wenn ich auch
nicht umhin kann zu bemerken, dass man gerade in dieser Sprache
während der scholastischen Jahrhunderte, trotz aller Logik, mehr Unsinn
geschrieben hat, als je in einer anderen; wodurch hat aber die lateinische
Sprache einen Charakter von so grosser, wortkarger Bestimmtheit
erlangt? Dadurch, dass sie ausschliesslich als Geschäfts- und Verwaltungs-
und Rechtssprache ausgebildet wurde. Diese unpoetischste aller Sprachen
ist ein grossartiges Monument des folgenschweren Kampfes freier
Menschen um ein gesichertes Recht. Dort zeige man sie unseren
Jünglingen am Werke. Die grossen Rechtslehrer Roms haben eo ipso
das schönste Lateinisch geschrieben; dazu (und nicht zum Verseschreiben)
war ja diese Sprache da; die makellos durchsichtige, jede Missdeutung
ausschliessende Satzbildung war ein wichtigstes Instrument juristischer
Technik; aus dem Rechtsstudium allein hat Cicero seine stilistischen
Vorzüge geschöpft. Schon von den ältesten Dokumenten der Ge-
schäfts- und Gerichtssprache sagt Mommsen, sie zeichneten sich aus
"durch Schärfe und Bestimmtheit",1) und von der Sprache Papinian's,

1) Römische Geschichte 1, 471.
Das Erbe der alten Welt.

Was ist das für eine Kunst, die nur zum Verstand, nie zum Herzen
redet? Es kann nur eine künstliche Kunst sein, eine Technik; käme
sie von Herzen, sie würde auch zu Herzen gehen. In Wahrheit stehen
wir hier noch unter französischer Vormundschaft, und die Franzosen
unter syrisch-jüdischer (Boileau-Pseudolonginus); und ist auch wenig
von dieser Erbschaft ins moderne Leben eingedrungen, wir sollten sie
endlich einmal ganz abwerfen zu Gunsten unserer eigenen Dichter in
Worten und in Tönen, gottbegnadeter Männer, deren Werke himmelhoch
alles überragen, was auf dem Schutte des verfallenden Rom wie etiolierte
Pflanzen, in ungesunder Hast, wurzel- und saftlos in die Höhe schoss.

In den Händen des Fachmannes, d. h. des Philologen, wird die
lateinische Poesie ebenso sicher und zweckentsprechend aufgehoben
sein, wie das corpus juris bei den Rechtsforschern. Will man aber
die lateinische Sprache als allgemeines Bildungsmittel durchaus bei-
behalten (anstatt dass man die griechische allein, dafür aber gründlicher,
lehrte), so zeige man sie dort am Werke, wo sie Unvergleichliches
leistet, wo sie, in Übereinstimmung mit der besonderen Anlage des
römischen Volkes und mit seiner historischen Entwickelung das vollbringt,
was nie eine andere Sprache gekonnt hat, noch können wird: beim
plastischen Ausbau rechtlicher Begriffe. Man sagt, die lateinische
Sprache bilde den logischen Sinn; ich will es glauben, wenn ich auch
nicht umhin kann zu bemerken, dass man gerade in dieser Sprache
während der scholastischen Jahrhunderte, trotz aller Logik, mehr Unsinn
geschrieben hat, als je in einer anderen; wodurch hat aber die lateinische
Sprache einen Charakter von so grosser, wortkarger Bestimmtheit
erlangt? Dadurch, dass sie ausschliesslich als Geschäfts- und Verwaltungs-
und Rechtssprache ausgebildet wurde. Diese unpoetischste aller Sprachen
ist ein grossartiges Monument des folgenschweren Kampfes freier
Menschen um ein gesichertes Recht. Dort zeige man sie unseren
Jünglingen am Werke. Die grossen Rechtslehrer Roms haben eo ipso
das schönste Lateinisch geschrieben; dazu (und nicht zum Verseschreiben)
war ja diese Sprache da; die makellos durchsichtige, jede Missdeutung
ausschliessende Satzbildung war ein wichtigstes Instrument juristischer
Technik; aus dem Rechtsstudium allein hat Cicero seine stilistischen
Vorzüge geschöpft. Schon von den ältesten Dokumenten der Ge-
schäfts- und Gerichtssprache sagt Mommsen, sie zeichneten sich aus
»durch Schärfe und Bestimmtheit«,1) und von der Sprache Papinian’s,

1) Römische Geschichte 1, 471.
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[184/0207] Das Erbe der alten Welt. Was ist das für eine Kunst, die nur zum Verstand, nie zum Herzen redet? Es kann nur eine künstliche Kunst sein, eine Technik; käme sie von Herzen, sie würde auch zu Herzen gehen. In Wahrheit stehen wir hier noch unter französischer Vormundschaft, und die Franzosen unter syrisch-jüdischer (Boileau-Pseudolonginus); und ist auch wenig von dieser Erbschaft ins moderne Leben eingedrungen, wir sollten sie endlich einmal ganz abwerfen zu Gunsten unserer eigenen Dichter in Worten und in Tönen, gottbegnadeter Männer, deren Werke himmelhoch alles überragen, was auf dem Schutte des verfallenden Rom wie etiolierte Pflanzen, in ungesunder Hast, wurzel- und saftlos in die Höhe schoss. In den Händen des Fachmannes, d. h. des Philologen, wird die lateinische Poesie ebenso sicher und zweckentsprechend aufgehoben sein, wie das corpus juris bei den Rechtsforschern. Will man aber die lateinische Sprache als allgemeines Bildungsmittel durchaus bei- behalten (anstatt dass man die griechische allein, dafür aber gründlicher, lehrte), so zeige man sie dort am Werke, wo sie Unvergleichliches leistet, wo sie, in Übereinstimmung mit der besonderen Anlage des römischen Volkes und mit seiner historischen Entwickelung das vollbringt, was nie eine andere Sprache gekonnt hat, noch können wird: beim plastischen Ausbau rechtlicher Begriffe. Man sagt, die lateinische Sprache bilde den logischen Sinn; ich will es glauben, wenn ich auch nicht umhin kann zu bemerken, dass man gerade in dieser Sprache während der scholastischen Jahrhunderte, trotz aller Logik, mehr Unsinn geschrieben hat, als je in einer anderen; wodurch hat aber die lateinische Sprache einen Charakter von so grosser, wortkarger Bestimmtheit erlangt? Dadurch, dass sie ausschliesslich als Geschäfts- und Verwaltungs- und Rechtssprache ausgebildet wurde. Diese unpoetischste aller Sprachen ist ein grossartiges Monument des folgenschweren Kampfes freier Menschen um ein gesichertes Recht. Dort zeige man sie unseren Jünglingen am Werke. Die grossen Rechtslehrer Roms haben eo ipso das schönste Lateinisch geschrieben; dazu (und nicht zum Verseschreiben) war ja diese Sprache da; die makellos durchsichtige, jede Missdeutung ausschliessende Satzbildung war ein wichtigstes Instrument juristischer Technik; aus dem Rechtsstudium allein hat Cicero seine stilistischen Vorzüge geschöpft. Schon von den ältesten Dokumenten der Ge- schäfts- und Gerichtssprache sagt Mommsen, sie zeichneten sich aus »durch Schärfe und Bestimmtheit«, 1) und von der Sprache Papinian’s, 1) Römische Geschichte 1, 471.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/207>, abgerufen am 21.11.2024.