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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
eines der letzten der grossen Rechtslehrer (unter Marc Aurel) berichten
philologisch geschulte Männer, sie sei: "die höchste Steigerung der
Fähigkeit, stets den der Tiefe und Klarheit des Gedankens vollkommen
entsprechenden Ausdruck zu finden"; wie aus Marmor gemeisselt
stünden seine Sätze: "kein Wort zu viel, keins zu wenig, jedes Wort
am unbedingt rechten Platz, so weit es der Sprache möglich ist, jeden
Doppelsinn ausschliessend".1) Ein Verkehr mit derartigen Menschen
wäre wirklich ein kostbarer Beitrag zu unserer Bildung. Und mich
dünkt, wenn jeder römische Knabe die zwölf Tafeln auswendig wusste,
unseren Jünglingen könnte es auch nur dienlich und geistig förderlich
sein, wenn sie die Schule nicht lediglich als dumme gelehrte subjecti,
sondern mit einigen genauen Begriffen rechtlicher und staatsrechtlicher
Dinge, nicht allein formell logisch, sondern auch vernünftig und
praktisch denkend, gestählt gegen hohle Schwärmerei für "deutsches
Recht" und dergleichen verliessen. Inzwischen liegt in unserm Verhalten
zur lateinischen Sprache eine schlecht verwaltete und darum ziemlich
sterile Erbschaft vor.

Wir Männer des 19. Jahrhunderts, wir wären nicht was wir sind,Zusammen-
fassung.

wenn wir nicht aus diesen beiden Kulturen, der hellenischen und der
römischen, ein reiches Vermächtnis angetreten hätten. Darum können
wir auch unmöglich beurteilen, was wir in Wahrheit sind, und mit
Bescheidenheit eingestehen, wie wenig das ist, wenn wir uns nicht
eine durchaus deutliche Vorstellung von der Beschaffenheit dieser
Erbstücke machen. Ich hoffe, mein Bestreben wird nach dieser
Richtung hin nicht ganz ohne Erfolg gewesen sein, auch hoffe ich,
dass der Leser namentlich bemerkt haben wird, wie das römische
Erbe sich von Grund und Boden aus vom hellenischen unterscheidet.

In Hellas war die geniale Persönlichkeit das ausschlaggebende
Moment gewesen: gleichviel ob diesseits oder jenseits des adriatischen
und des ägäischen Meeres, die Griechen waren gross, so lange sie
grosse Männer besassen. In Rom hat es dagegen nur insofern und
nur so lange bedeutende Individualitäten gegeben, als das Volk gross
war, und gross war es, so lange es physisch und moralisch unver-
fälscht römisch blieb. Rom ist das extremste Beispiel einer grossen
anonymen Volksmacht, die unbewusst, dafür aber um so sicherer
schafft. Darum aber ist es weniger anziehend als Hellas, und darum

1) Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 400.

Römisches Recht.
eines der letzten der grossen Rechtslehrer (unter Marc Aurel) berichten
philologisch geschulte Männer, sie sei: »die höchste Steigerung der
Fähigkeit, stets den der Tiefe und Klarheit des Gedankens vollkommen
entsprechenden Ausdruck zu finden«; wie aus Marmor gemeisselt
stünden seine Sätze: »kein Wort zu viel, keins zu wenig, jedes Wort
am unbedingt rechten Platz, so weit es der Sprache möglich ist, jeden
Doppelsinn ausschliessend«.1) Ein Verkehr mit derartigen Menschen
wäre wirklich ein kostbarer Beitrag zu unserer Bildung. Und mich
dünkt, wenn jeder römische Knabe die zwölf Tafeln auswendig wusste,
unseren Jünglingen könnte es auch nur dienlich und geistig förderlich
sein, wenn sie die Schule nicht lediglich als dumme gelehrte subjecti,
sondern mit einigen genauen Begriffen rechtlicher und staatsrechtlicher
Dinge, nicht allein formell logisch, sondern auch vernünftig und
praktisch denkend, gestählt gegen hohle Schwärmerei für »deutsches
Recht« und dergleichen verliessen. Inzwischen liegt in unserm Verhalten
zur lateinischen Sprache eine schlecht verwaltete und darum ziemlich
sterile Erbschaft vor.

Wir Männer des 19. Jahrhunderts, wir wären nicht was wir sind,Zusammen-
fassung.

wenn wir nicht aus diesen beiden Kulturen, der hellenischen und der
römischen, ein reiches Vermächtnis angetreten hätten. Darum können
wir auch unmöglich beurteilen, was wir in Wahrheit sind, und mit
Bescheidenheit eingestehen, wie wenig das ist, wenn wir uns nicht
eine durchaus deutliche Vorstellung von der Beschaffenheit dieser
Erbstücke machen. Ich hoffe, mein Bestreben wird nach dieser
Richtung hin nicht ganz ohne Erfolg gewesen sein, auch hoffe ich,
dass der Leser namentlich bemerkt haben wird, wie das römische
Erbe sich von Grund und Boden aus vom hellenischen unterscheidet.

In Hellas war die geniale Persönlichkeit das ausschlaggebende
Moment gewesen: gleichviel ob diesseits oder jenseits des adriatischen
und des ägäischen Meeres, die Griechen waren gross, so lange sie
grosse Männer besassen. In Rom hat es dagegen nur insofern und
nur so lange bedeutende Individualitäten gegeben, als das Volk gross
war, und gross war es, so lange es physisch und moralisch unver-
fälscht römisch blieb. Rom ist das extremste Beispiel einer grossen
anonymen Volksmacht, die unbewusst, dafür aber um so sicherer
schafft. Darum aber ist es weniger anziehend als Hellas, und darum

1) Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 400.
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[185/0208] Römisches Recht. eines der letzten der grossen Rechtslehrer (unter Marc Aurel) berichten philologisch geschulte Männer, sie sei: »die höchste Steigerung der Fähigkeit, stets den der Tiefe und Klarheit des Gedankens vollkommen entsprechenden Ausdruck zu finden«; wie aus Marmor gemeisselt stünden seine Sätze: »kein Wort zu viel, keins zu wenig, jedes Wort am unbedingt rechten Platz, so weit es der Sprache möglich ist, jeden Doppelsinn ausschliessend«. 1) Ein Verkehr mit derartigen Menschen wäre wirklich ein kostbarer Beitrag zu unserer Bildung. Und mich dünkt, wenn jeder römische Knabe die zwölf Tafeln auswendig wusste, unseren Jünglingen könnte es auch nur dienlich und geistig förderlich sein, wenn sie die Schule nicht lediglich als dumme gelehrte subjecti, sondern mit einigen genauen Begriffen rechtlicher und staatsrechtlicher Dinge, nicht allein formell logisch, sondern auch vernünftig und praktisch denkend, gestählt gegen hohle Schwärmerei für »deutsches Recht« und dergleichen verliessen. Inzwischen liegt in unserm Verhalten zur lateinischen Sprache eine schlecht verwaltete und darum ziemlich sterile Erbschaft vor. Wir Männer des 19. Jahrhunderts, wir wären nicht was wir sind, wenn wir nicht aus diesen beiden Kulturen, der hellenischen und der römischen, ein reiches Vermächtnis angetreten hätten. Darum können wir auch unmöglich beurteilen, was wir in Wahrheit sind, und mit Bescheidenheit eingestehen, wie wenig das ist, wenn wir uns nicht eine durchaus deutliche Vorstellung von der Beschaffenheit dieser Erbstücke machen. Ich hoffe, mein Bestreben wird nach dieser Richtung hin nicht ganz ohne Erfolg gewesen sein, auch hoffe ich, dass der Leser namentlich bemerkt haben wird, wie das römische Erbe sich von Grund und Boden aus vom hellenischen unterscheidet. Zusammen- fassung. In Hellas war die geniale Persönlichkeit das ausschlaggebende Moment gewesen: gleichviel ob diesseits oder jenseits des adriatischen und des ägäischen Meeres, die Griechen waren gross, so lange sie grosse Männer besassen. In Rom hat es dagegen nur insofern und nur so lange bedeutende Individualitäten gegeben, als das Volk gross war, und gross war es, so lange es physisch und moralisch unver- fälscht römisch blieb. Rom ist das extremste Beispiel einer grossen anonymen Volksmacht, die unbewusst, dafür aber um so sicherer schafft. Darum aber ist es weniger anziehend als Hellas, und darum 1) Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 400.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/208>, abgerufen am 15.05.2024.