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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
an dem wirklichen Dasein dieser grossen moralischen Helden ge-
zweifelt haben: denn ist das historisch-chronologische Material über
sie auch äusserst dürftig und lückenhaft, so steht doch ihre sittliche
und geistige Individualität so leuchtend klar vor Augen, und diese
Individualität ist eine so unvergleichliche, dass sie nicht erfunden
werden konnte. Die Erfindungsgabe des Menschen ist eng beschränkt;
das schöpferische Gemüt kann nur mit Gegebenem arbeiten: Homer
muss Menschen auf dem Olympos inthronisieren, denn was er sah
und erlebte, zieht seiner Gestaltungskraft die unübersteigbare Grenze;
dass er seine Götter so ganz menschlich darstellt, dass er seiner
Phantasie nicht gestattet, sich ins Ungeheuerliche, Unvorstellbare (weil
nie Gesehene) zu verirren, dass er sie vielmehr bändigt, um ihre
ungeteilte Kraft zu einer sichtbaren Dichtung zu verwerten, das ist
ein Beweis unter tausenden, und nicht der geringste, von seiner geistigen
Überlegenheit. Wir vermögen es nicht einmal, eine Pflanzen- oder
eine Tiergestalt zu erfinden; höchstens stellen wir bei derartigen
Versuchen eine aus Bruchteilen allerhand bekannter Wesen zusammen-
gestoppelte Monstruosität zusammen. Die Natur dagegen, die uner-
schöpflich erfindungsreiche, zeigt uns Neues, wann es ihr beliebt;
und dieses Neue ist nunmehr für unser Bewusstsein ebenso unver-
tilgbar wie es ehedem unerfindbar war. Einen Buddha, geschweige
einen Jesus Christus, konnte keine dichterische Menschenkraft, weder
die eines Einzelnen, noch die eines Volkes, erfinden; nirgends ent-
decken wir auch nur den geringsten Ansatz dazu. Weder Dichter,
noch Philosophen, noch Propheten haben sich ein derartiges Phänomen
erträumen können. Oft redet man freilich, anknüpfend an Jesus
Christus, von Plato; ganze Bücher giebt es über das angebliche Verhältnis
zwischen diesen beiden; es sei nämlich der griechische Philosoph ein
Vorverkündiger der neuen Heilslehre gewesen. Ja, halten uns die
gelehrten Herren denn für Narren? Wird nicht der hellenische
Rationalismus öder, je höher er sich versteigt? War man jemals ent-
fernter von aller Religion, von aller Möglichkeit, veredelnd auf das
Leben zu wirken als in dem Augenblick, wo die Besten des begabtesten
Volkes über die notwendigen Eigenschaften der Seele stritten (autonom,
gottverwandt u. s. w., siehe S. 114), als sie den Menschen als Ideal
die "Idee des Guten", welche identisch sei mit der "Idee des Schönen"
vorhielten und endlosen ebensolchen Firlefanz einer tollgewordenen,
weil Unmögliches erstrebenden Vernunft? Sieht denn nicht Jeder ein,
dass Plato dort am grössten ist, wo er das Leben berührt, in seinem

Das Erbe der alten Welt.
an dem wirklichen Dasein dieser grossen moralischen Helden ge-
zweifelt haben: denn ist das historisch-chronologische Material über
sie auch äusserst dürftig und lückenhaft, so steht doch ihre sittliche
und geistige Individualität so leuchtend klar vor Augen, und diese
Individualität ist eine so unvergleichliche, dass sie nicht erfunden
werden konnte. Die Erfindungsgabe des Menschen ist eng beschränkt;
das schöpferische Gemüt kann nur mit Gegebenem arbeiten: Homer
muss Menschen auf dem Olympos inthronisieren, denn was er sah
und erlebte, zieht seiner Gestaltungskraft die unübersteigbare Grenze;
dass er seine Götter so ganz menschlich darstellt, dass er seiner
Phantasie nicht gestattet, sich ins Ungeheuerliche, Unvorstellbare (weil
nie Gesehene) zu verirren, dass er sie vielmehr bändigt, um ihre
ungeteilte Kraft zu einer sichtbaren Dichtung zu verwerten, das ist
ein Beweis unter tausenden, und nicht der geringste, von seiner geistigen
Überlegenheit. Wir vermögen es nicht einmal, eine Pflanzen- oder
eine Tiergestalt zu erfinden; höchstens stellen wir bei derartigen
Versuchen eine aus Bruchteilen allerhand bekannter Wesen zusammen-
gestoppelte Monstruosität zusammen. Die Natur dagegen, die uner-
schöpflich erfindungsreiche, zeigt uns Neues, wann es ihr beliebt;
und dieses Neue ist nunmehr für unser Bewusstsein ebenso unver-
tilgbar wie es ehedem unerfindbar war. Einen Buddha, geschweige
einen Jesus Christus, konnte keine dichterische Menschenkraft, weder
die eines Einzelnen, noch die eines Volkes, erfinden; nirgends ent-
decken wir auch nur den geringsten Ansatz dazu. Weder Dichter,
noch Philosophen, noch Propheten haben sich ein derartiges Phänomen
erträumen können. Oft redet man freilich, anknüpfend an Jesus
Christus, von Plato; ganze Bücher giebt es über das angebliche Verhältnis
zwischen diesen beiden; es sei nämlich der griechische Philosoph ein
Vorverkündiger der neuen Heilslehre gewesen. Ja, halten uns die
gelehrten Herren denn für Narren? Wird nicht der hellenische
Rationalismus öder, je höher er sich versteigt? War man jemals ent-
fernter von aller Religion, von aller Möglichkeit, veredelnd auf das
Leben zu wirken als in dem Augenblick, wo die Besten des begabtesten
Volkes über die notwendigen Eigenschaften der Seele stritten (autonom,
gottverwandt u. s. w., siehe S. 114), als sie den Menschen als Ideal
die »Idee des Guten«, welche identisch sei mit der »Idee des Schönen«
vorhielten und endlosen ebensolchen Firlefanz einer tollgewordenen,
weil Unmögliches erstrebenden Vernunft? Sieht denn nicht Jeder ein,
dass Plato dort am grössten ist, wo er das Leben berührt, in seinem

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[192/0215] Das Erbe der alten Welt. an dem wirklichen Dasein dieser grossen moralischen Helden ge- zweifelt haben: denn ist das historisch-chronologische Material über sie auch äusserst dürftig und lückenhaft, so steht doch ihre sittliche und geistige Individualität so leuchtend klar vor Augen, und diese Individualität ist eine so unvergleichliche, dass sie nicht erfunden werden konnte. Die Erfindungsgabe des Menschen ist eng beschränkt; das schöpferische Gemüt kann nur mit Gegebenem arbeiten: Homer muss Menschen auf dem Olympos inthronisieren, denn was er sah und erlebte, zieht seiner Gestaltungskraft die unübersteigbare Grenze; dass er seine Götter so ganz menschlich darstellt, dass er seiner Phantasie nicht gestattet, sich ins Ungeheuerliche, Unvorstellbare (weil nie Gesehene) zu verirren, dass er sie vielmehr bändigt, um ihre ungeteilte Kraft zu einer sichtbaren Dichtung zu verwerten, das ist ein Beweis unter tausenden, und nicht der geringste, von seiner geistigen Überlegenheit. Wir vermögen es nicht einmal, eine Pflanzen- oder eine Tiergestalt zu erfinden; höchstens stellen wir bei derartigen Versuchen eine aus Bruchteilen allerhand bekannter Wesen zusammen- gestoppelte Monstruosität zusammen. Die Natur dagegen, die uner- schöpflich erfindungsreiche, zeigt uns Neues, wann es ihr beliebt; und dieses Neue ist nunmehr für unser Bewusstsein ebenso unver- tilgbar wie es ehedem unerfindbar war. Einen Buddha, geschweige einen Jesus Christus, konnte keine dichterische Menschenkraft, weder die eines Einzelnen, noch die eines Volkes, erfinden; nirgends ent- decken wir auch nur den geringsten Ansatz dazu. Weder Dichter, noch Philosophen, noch Propheten haben sich ein derartiges Phänomen erträumen können. Oft redet man freilich, anknüpfend an Jesus Christus, von Plato; ganze Bücher giebt es über das angebliche Verhältnis zwischen diesen beiden; es sei nämlich der griechische Philosoph ein Vorverkündiger der neuen Heilslehre gewesen. Ja, halten uns die gelehrten Herren denn für Narren? Wird nicht der hellenische Rationalismus öder, je höher er sich versteigt? War man jemals ent- fernter von aller Religion, von aller Möglichkeit, veredelnd auf das Leben zu wirken als in dem Augenblick, wo die Besten des begabtesten Volkes über die notwendigen Eigenschaften der Seele stritten (autonom, gottverwandt u. s. w., siehe S. 114), als sie den Menschen als Ideal die »Idee des Guten«, welche identisch sei mit der »Idee des Schönen« vorhielten und endlosen ebensolchen Firlefanz einer tollgewordenen, weil Unmögliches erstrebenden Vernunft? Sieht denn nicht Jeder ein, dass Plato dort am grössten ist, wo er das Leben berührt, in seinem

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/215>, abgerufen am 21.11.2024.