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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
Phaidros, seinem Gastmahl, seinem Phaedon? Und nun gar Sokrates!
Der kluge Urheber der Grammatik und der Logik, der biedere Ver-
künder einer Philistermoral, der edle Schwätzer der atheniensischen
Gymnasien, ist er nicht in allem der Gegenpart zu dem göttlichen
Verkünder eines Himmelreichs der "Armen an Geist"? Ebensowenig
hat man in Indien die Gestalt eines Buddha im Voraus geahnt oder
durch die Sehnsucht herbeigezaubert. Alle solche Behauptungen ge-
hören dem weiten Gebiete des nachträglich konstruierenden, ge-
schichtsphilosophischen Irrwahnes an. Wären Christus und das
Christentum eine historische Notwendigkeit gewesen, wie der Neo-
scholastiker Hegel behauptet, so hätten wir nicht einen Christus,
sondern tausend entstehen sehen müssen; ich möchte wirklich wissen,
in welchem Jahrhundert ein Jesus nicht ebenso "notwendig" gewesen
wäre wie das liebe Brot?1) Verwerfen wir also solche von Gedanken-
blässe angekränkelte Betrachtungen, die alle den einzigen Erfolg haben,
das allein Ausschlaggebende und Produktive, nämlich die Bedeutung
der lebendigen, individuellen, unvergleichlichen Persönlichkeit zu
verwischen. Immer wieder muss man Goethe's grosses Wort anführen:

Höchstes Gut der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit!

Wohl wird die Umgebung der Persönlichkeit, die Kenntnis ihrer
allgemeinen Bedingtheit in Zeit und Raum wertvolle Beiträge liefern
zu ihrer klaren Erkenntnis; durch ein solches Wissen werden wir
Wichtiges von Unwichtigem, charakteristisch Individuelles von örtlich
Konventionellem zu unterscheiden lernen; das heisst also, wir werden
die Persönlichkeit immer klarer erblicken. Sie jedoch erklären, sie als
eine logische Notwendigkeit darthun wollen, ist ein müssiges, albernes

1) Über Christus schreibt Hegel (Philosophie der Geschichte, Th. III, A. 3.
Kap. 2): "Er wurde als ein dieser Mensch geboren, in abstrakter Subjektivität,
aber so, dass umgekehrt die Endlichkeit nur die Form seiner Erscheinung ist,
deren Wesen und Inhalt vielmehr die Unendlichkeit, das absolute Fürsichsein aus-
macht. -- -- Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der
christlichen Religion offenbar. Was ist aber der Geist? Er ist das Eine, sich selbst
gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als
das Andere ihrer selbst, als das Fürsich- und Insichsein gegen das Allgemeine.
Diese Trennung ist aber dadurch aufgehoben, dass die atomistische Subjektivität,
als die einfache Beziehung auf sich, selbst das Allgemeine, mit sich Identische ist." --
Was wohl zukünftige Jahrhunderte zu diesem Wortschwall sagen werden? Während
zwei Dritteln des unsrigen wurde er für höchste Weisheit gehalten.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 13

Die Erscheinung Christi.
Phaidros, seinem Gastmahl, seinem Phaedon? Und nun gar Sokrates!
Der kluge Urheber der Grammatik und der Logik, der biedere Ver-
künder einer Philistermoral, der edle Schwätzer der atheniensischen
Gymnasien, ist er nicht in allem der Gegenpart zu dem göttlichen
Verkünder eines Himmelreichs der »Armen an Geist«? Ebensowenig
hat man in Indien die Gestalt eines Buddha im Voraus geahnt oder
durch die Sehnsucht herbeigezaubert. Alle solche Behauptungen ge-
hören dem weiten Gebiete des nachträglich konstruierenden, ge-
schichtsphilosophischen Irrwahnes an. Wären Christus und das
Christentum eine historische Notwendigkeit gewesen, wie der Neo-
scholastiker Hegel behauptet, so hätten wir nicht einen Christus,
sondern tausend entstehen sehen müssen; ich möchte wirklich wissen,
in welchem Jahrhundert ein Jesus nicht ebenso »notwendig« gewesen
wäre wie das liebe Brot?1) Verwerfen wir also solche von Gedanken-
blässe angekränkelte Betrachtungen, die alle den einzigen Erfolg haben,
das allein Ausschlaggebende und Produktive, nämlich die Bedeutung
der lebendigen, individuellen, unvergleichlichen Persönlichkeit zu
verwischen. Immer wieder muss man Goethe’s grosses Wort anführen:

Höchstes Gut der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit!

Wohl wird die Umgebung der Persönlichkeit, die Kenntnis ihrer
allgemeinen Bedingtheit in Zeit und Raum wertvolle Beiträge liefern
zu ihrer klaren Erkenntnis; durch ein solches Wissen werden wir
Wichtiges von Unwichtigem, charakteristisch Individuelles von örtlich
Konventionellem zu unterscheiden lernen; das heisst also, wir werden
die Persönlichkeit immer klarer erblicken. Sie jedoch erklären, sie als
eine logische Notwendigkeit darthun wollen, ist ein müssiges, albernes

1) Über Christus schreibt Hegel (Philosophie der Geschichte, Th. III, A. 3.
Kap. 2): »Er wurde als ein dieser Mensch geboren, in abstrakter Subjektivität,
aber so, dass umgekehrt die Endlichkeit nur die Form seiner Erscheinung ist,
deren Wesen und Inhalt vielmehr die Unendlichkeit, das absolute Fürsichsein aus-
macht. — — Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der
christlichen Religion offenbar. Was ist aber der Geist? Er ist das Eine, sich selbst
gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als
das Andere ihrer selbst, als das Fürsich- und Insichsein gegen das Allgemeine.
Diese Trennung ist aber dadurch aufgehoben, dass die atomistische Subjektivität,
als die einfache Beziehung auf sich, selbst das Allgemeine, mit sich Identische ist.« —
Was wohl zukünftige Jahrhunderte zu diesem Wortschwall sagen werden? Während
zwei Dritteln des unsrigen wurde er für höchste Weisheit gehalten.
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[193/0216] Die Erscheinung Christi. Phaidros, seinem Gastmahl, seinem Phaedon? Und nun gar Sokrates! Der kluge Urheber der Grammatik und der Logik, der biedere Ver- künder einer Philistermoral, der edle Schwätzer der atheniensischen Gymnasien, ist er nicht in allem der Gegenpart zu dem göttlichen Verkünder eines Himmelreichs der »Armen an Geist«? Ebensowenig hat man in Indien die Gestalt eines Buddha im Voraus geahnt oder durch die Sehnsucht herbeigezaubert. Alle solche Behauptungen ge- hören dem weiten Gebiete des nachträglich konstruierenden, ge- schichtsphilosophischen Irrwahnes an. Wären Christus und das Christentum eine historische Notwendigkeit gewesen, wie der Neo- scholastiker Hegel behauptet, so hätten wir nicht einen Christus, sondern tausend entstehen sehen müssen; ich möchte wirklich wissen, in welchem Jahrhundert ein Jesus nicht ebenso »notwendig« gewesen wäre wie das liebe Brot? 1) Verwerfen wir also solche von Gedanken- blässe angekränkelte Betrachtungen, die alle den einzigen Erfolg haben, das allein Ausschlaggebende und Produktive, nämlich die Bedeutung der lebendigen, individuellen, unvergleichlichen Persönlichkeit zu verwischen. Immer wieder muss man Goethe’s grosses Wort anführen: Höchstes Gut der Erdenkinder Ist nur die Persönlichkeit! Wohl wird die Umgebung der Persönlichkeit, die Kenntnis ihrer allgemeinen Bedingtheit in Zeit und Raum wertvolle Beiträge liefern zu ihrer klaren Erkenntnis; durch ein solches Wissen werden wir Wichtiges von Unwichtigem, charakteristisch Individuelles von örtlich Konventionellem zu unterscheiden lernen; das heisst also, wir werden die Persönlichkeit immer klarer erblicken. Sie jedoch erklären, sie als eine logische Notwendigkeit darthun wollen, ist ein müssiges, albernes 1) Über Christus schreibt Hegel (Philosophie der Geschichte, Th. III, A. 3. Kap. 2): »Er wurde als ein dieser Mensch geboren, in abstrakter Subjektivität, aber so, dass umgekehrt die Endlichkeit nur die Form seiner Erscheinung ist, deren Wesen und Inhalt vielmehr die Unendlichkeit, das absolute Fürsichsein aus- macht. — — Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der christlichen Religion offenbar. Was ist aber der Geist? Er ist das Eine, sich selbst gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als das Andere ihrer selbst, als das Fürsich- und Insichsein gegen das Allgemeine. Diese Trennung ist aber dadurch aufgehoben, dass die atomistische Subjektivität, als die einfache Beziehung auf sich, selbst das Allgemeine, mit sich Identische ist.« — Was wohl zukünftige Jahrhunderte zu diesem Wortschwall sagen werden? Während zwei Dritteln des unsrigen wurde er für höchste Weisheit gehalten. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 13

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/216>, abgerufen am 21.11.2024.