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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
"vernünftigen Religion", auch war manchmal in den letzten Jahren
von einem "Ersatz der Religion durch Höheres" die Rede und auf
den Bergesspitzen gewisser deutscher Gaue opferten zur Zeit der Sonnen-
wende neuerstandene "Wotansanbeter"; keiner dieser Bewegungen
eignete jedoch bisher die geringste weltgestaltende Kraft. Ideen sind
eben unsterblich; ich sagte es schon öfters und werde es immer
wiederholen müssen; und in solchen Gestalten wie Buddha und Christus:
erreicht eine Idee -- nämlich eine bestimmte Vorstellung des Menschen-
daseins -- eine so lebendige Verkörperung, diese Idee wird so voll-
kommen durchgelebt, so klar vor Aller Augen hingestellt, dass sie
nie mehr aus dem menschlichen Bewusstsein entschwinden kann.
Mancher mag den Gekreuzigten niemals erblickt haben, mancher kann
an dieser Erscheinung stets gänzlich achtlos vorübergegangen sein,
Tausenden von Menschen, auch unter uns, fehlt das, was man den
inneren Sinn nennen könnte, um ihrer überhaupt gewahr zu werden,
dagegen kann man nicht Jesum einmal erblickt haben, auch nur mit
halbverschleierten Augen, und ihn dann wieder vergessen; es liegt
nicht in unserer Macht, Erfahrenes aus unserer Vorstellung auszurotten.
Man ist nicht Christ, weil man in dieser oder jener Kirche auferzogen
wurde, weil man Christ sein will, sondern ist man Christ, so ist
man es, weil man es sein muss, weil kein Chaos des Weltgetriebes,
kein Delirium der Eigensucht, keine Dressur des Denkens die einmal
gesehene Gestalt des Schmerzensreichen auszulöschen vermag. Christus,
am Vorabend seines Todes von seinen Jüngern über die Bedeutung
einer seiner Handlungen befragt, antwortete: "Ein Beispiel habe
ich euch gegeben." Das ist die Bedeutung nicht bloss der einen
Handlung, sondern seines ganzen Lebens und Sterbens. Selbst ein so
streng kirchlicher Mann wie Martin Luther schreibt: "Des Herrn Christi
Beispiel ist zugleich ein Sakrament, es ist in uns kräftig, und lehret
nicht allein, wie die Exempel der Väter thun, sonden wirket auch
das, so es lehret, giebt das Leben, die Auferstehung und Erlösung
vom Tode." In Ähnlichem liegt die Weltmacht Buddha's begründet.
Der wahre Quell aller Religion ist, ich wiederhole es, bei der über-
wiegenden Mehrzahl aller jetzt lebenden Menschen nicht eine Lehre,
sondern ein Leben. In wiefern wir im Stande sind, dem Beispiel
mit schwachen Kräften zu folgen, in wiefern nicht, das ist eine
ganz andere Frage; das Ideal ist da, deutlich, unverkennbar, und es
wirkt seit Jahrhunderten mit einer Gewalt ohnegleichen auf die Ge-
danken und Handlungen der Menschen, auch der ungläubigen.

Das Erbe der alten Welt.
»vernünftigen Religion«, auch war manchmal in den letzten Jahren
von einem »Ersatz der Religion durch Höheres« die Rede und auf
den Bergesspitzen gewisser deutscher Gaue opferten zur Zeit der Sonnen-
wende neuerstandene »Wotansanbeter«; keiner dieser Bewegungen
eignete jedoch bisher die geringste weltgestaltende Kraft. Ideen sind
eben unsterblich; ich sagte es schon öfters und werde es immer
wiederholen müssen; und in solchen Gestalten wie Buddha und Christus:
erreicht eine Idee — nämlich eine bestimmte Vorstellung des Menschen-
daseins — eine so lebendige Verkörperung, diese Idee wird so voll-
kommen durchgelebt, so klar vor Aller Augen hingestellt, dass sie
nie mehr aus dem menschlichen Bewusstsein entschwinden kann.
Mancher mag den Gekreuzigten niemals erblickt haben, mancher kann
an dieser Erscheinung stets gänzlich achtlos vorübergegangen sein,
Tausenden von Menschen, auch unter uns, fehlt das, was man den
inneren Sinn nennen könnte, um ihrer überhaupt gewahr zu werden,
dagegen kann man nicht Jesum einmal erblickt haben, auch nur mit
halbverschleierten Augen, und ihn dann wieder vergessen; es liegt
nicht in unserer Macht, Erfahrenes aus unserer Vorstellung auszurotten.
Man ist nicht Christ, weil man in dieser oder jener Kirche auferzogen
wurde, weil man Christ sein will, sondern ist man Christ, so ist
man es, weil man es sein muss, weil kein Chaos des Weltgetriebes,
kein Delirium der Eigensucht, keine Dressur des Denkens die einmal
gesehene Gestalt des Schmerzensreichen auszulöschen vermag. Christus,
am Vorabend seines Todes von seinen Jüngern über die Bedeutung
einer seiner Handlungen befragt, antwortete: »Ein Beispiel habe
ich euch gegeben.« Das ist die Bedeutung nicht bloss der einen
Handlung, sondern seines ganzen Lebens und Sterbens. Selbst ein so
streng kirchlicher Mann wie Martin Luther schreibt: »Des Herrn Christi
Beispiel ist zugleich ein Sakrament, es ist in uns kräftig, und lehret
nicht allein, wie die Exempel der Väter thun, sonden wirket auch
das, so es lehret, giebt das Leben, die Auferstehung und Erlösung
vom Tode.« In Ähnlichem liegt die Weltmacht Buddha’s begründet.
Der wahre Quell aller Religion ist, ich wiederhole es, bei der über-
wiegenden Mehrzahl aller jetzt lebenden Menschen nicht eine Lehre,
sondern ein Leben. In wiefern wir im Stande sind, dem Beispiel
mit schwachen Kräften zu folgen, in wiefern nicht, das ist eine
ganz andere Frage; das Ideal ist da, deutlich, unverkennbar, und es
wirkt seit Jahrhunderten mit einer Gewalt ohnegleichen auf die Ge-
danken und Handlungen der Menschen, auch der ungläubigen.

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[196/0219] Das Erbe der alten Welt. »vernünftigen Religion«, auch war manchmal in den letzten Jahren von einem »Ersatz der Religion durch Höheres« die Rede und auf den Bergesspitzen gewisser deutscher Gaue opferten zur Zeit der Sonnen- wende neuerstandene »Wotansanbeter«; keiner dieser Bewegungen eignete jedoch bisher die geringste weltgestaltende Kraft. Ideen sind eben unsterblich; ich sagte es schon öfters und werde es immer wiederholen müssen; und in solchen Gestalten wie Buddha und Christus: erreicht eine Idee — nämlich eine bestimmte Vorstellung des Menschen- daseins — eine so lebendige Verkörperung, diese Idee wird so voll- kommen durchgelebt, so klar vor Aller Augen hingestellt, dass sie nie mehr aus dem menschlichen Bewusstsein entschwinden kann. Mancher mag den Gekreuzigten niemals erblickt haben, mancher kann an dieser Erscheinung stets gänzlich achtlos vorübergegangen sein, Tausenden von Menschen, auch unter uns, fehlt das, was man den inneren Sinn nennen könnte, um ihrer überhaupt gewahr zu werden, dagegen kann man nicht Jesum einmal erblickt haben, auch nur mit halbverschleierten Augen, und ihn dann wieder vergessen; es liegt nicht in unserer Macht, Erfahrenes aus unserer Vorstellung auszurotten. Man ist nicht Christ, weil man in dieser oder jener Kirche auferzogen wurde, weil man Christ sein will, sondern ist man Christ, so ist man es, weil man es sein muss, weil kein Chaos des Weltgetriebes, kein Delirium der Eigensucht, keine Dressur des Denkens die einmal gesehene Gestalt des Schmerzensreichen auszulöschen vermag. Christus, am Vorabend seines Todes von seinen Jüngern über die Bedeutung einer seiner Handlungen befragt, antwortete: »Ein Beispiel habe ich euch gegeben.« Das ist die Bedeutung nicht bloss der einen Handlung, sondern seines ganzen Lebens und Sterbens. Selbst ein so streng kirchlicher Mann wie Martin Luther schreibt: »Des Herrn Christi Beispiel ist zugleich ein Sakrament, es ist in uns kräftig, und lehret nicht allein, wie die Exempel der Väter thun, sonden wirket auch das, so es lehret, giebt das Leben, die Auferstehung und Erlösung vom Tode.« In Ähnlichem liegt die Weltmacht Buddha’s begründet. Der wahre Quell aller Religion ist, ich wiederhole es, bei der über- wiegenden Mehrzahl aller jetzt lebenden Menschen nicht eine Lehre, sondern ein Leben. In wiefern wir im Stande sind, dem Beispiel mit schwachen Kräften zu folgen, in wiefern nicht, das ist eine ganz andere Frage; das Ideal ist da, deutlich, unverkennbar, und es wirkt seit Jahrhunderten mit einer Gewalt ohnegleichen auf die Ge- danken und Handlungen der Menschen, auch der ungläubigen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/219>, abgerufen am 21.11.2024.