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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.

Hierauf komme ich in einem anderen Zusammenhange später
zurück. Wenn ich nun an dieser Stelle, wo einzig die Erscheinung
Christi mich beschäftigt, Buddha herangezogen habe, so geschah das
besonders deswegen, weil nichts eine Gestalt so deutlich hervortreten
lässt wie der Vergleich. Nur darf der Vergleich kein ungereimter
sein, und ich wüsste nicht, wen die Weltgeschichte ausser Buddha
als geeignet zu einem Vergleich mit Christus bietet. Beiden gemeinsam
ist der göttliche Ernst; beiden gemeinsam ist die Sehnsucht, der ganzen
Menschheit den Weg der Erlösung zu weisen; beiden ist eine un-
erhörte Macht der Persönlichkeit eigen. Und dennoch, stellt man
diese beiden Gestalten nebeneinander, so kann es nicht sein, um
eine Parallele zwischen ihnen zu ziehen, sondern nur um den Kon-
trast zu betonen. Christus und Buddha sind Gegensätze. Was sie
einigt, ist die Erhabenheit der Gesinnung; aus dieser ging ein Leben
ohne Gleichen hervor, und aus dem Leben eine weitreichende Wirkung,
wie sie die Welt noch nicht erfahren hatte. Sonst aber trennt sie
fast alles, und der Neobuddhismus, der sich in den letzten Jahren in
gewissen Gesellschaftsschichten Europas breitmacht, angeblich im
engsten Anschluss an das Christentum und über dieses hinausschreitend,
ist nur ein neuer Beweis von der weitverbreiteten Oberflächlichkeit
im Denken. Buddha's Denken und Leben bildet nämlich das genaue
Gegenteil von Christi Denken und Leben, das, was der Logiker die
Antithese, der Physiker den Gegenpol nennt.

Buddha bedeutet den greisenhaften Ausgang einer an der GrenzeBuddha.
ihres Könnens angelangten Kultur. Ein hochgebildeter, mit reicher
Machtfülle begabter Fürst erkennt die Nichtigkeit seiner Bildung und
seiner Macht; was Allen das Höchste dünkt, besitzt er, doch vor dem
Blick des Wahrhaftigen schmilzt dieser Besitz zu einem Nichts zu-
sammen. Die indische Kultur, aus der nachdenklichen Beschaulichkeit
eines Hirtenlebens hervorgegangen, hatte sich mit aller Wucht einer
hohen Begabung auf die Ausbildung der einen menschlichen Anlage,
der kombinierenden Vernunft, geworfen; dabei verkümmerte die Ver-
bindung mit der umgebenden Welt -- die kindliche Beobachtung,
die praktisch-geschäftige Nutzbarmachung -- wenigstens bei den Ge-
bildeteren fast völlig; Alles war systematisch auf die Entwickelung des
Denkvermögens angelegt; jeder gebildete Jüngling wusste auswendig,
Wort für Wort, eine ganze Litteratur von so subtilem Gedankengehalt,
dass wenige Europäer heutzutage überhaupt fähig sind, demselben zu
folgen; selbst die abstrakteste Vorstellungsart der konkreten Welt, die

Die Erscheinung Christi.

Hierauf komme ich in einem anderen Zusammenhange später
zurück. Wenn ich nun an dieser Stelle, wo einzig die Erscheinung
Christi mich beschäftigt, Buddha herangezogen habe, so geschah das
besonders deswegen, weil nichts eine Gestalt so deutlich hervortreten
lässt wie der Vergleich. Nur darf der Vergleich kein ungereimter
sein, und ich wüsste nicht, wen die Weltgeschichte ausser Buddha
als geeignet zu einem Vergleich mit Christus bietet. Beiden gemeinsam
ist der göttliche Ernst; beiden gemeinsam ist die Sehnsucht, der ganzen
Menschheit den Weg der Erlösung zu weisen; beiden ist eine un-
erhörte Macht der Persönlichkeit eigen. Und dennoch, stellt man
diese beiden Gestalten nebeneinander, so kann es nicht sein, um
eine Parallele zwischen ihnen zu ziehen, sondern nur um den Kon-
trast zu betonen. Christus und Buddha sind Gegensätze. Was sie
einigt, ist die Erhabenheit der Gesinnung; aus dieser ging ein Leben
ohne Gleichen hervor, und aus dem Leben eine weitreichende Wirkung,
wie sie die Welt noch nicht erfahren hatte. Sonst aber trennt sie
fast alles, und der Neobuddhismus, der sich in den letzten Jahren in
gewissen Gesellschaftsschichten Europas breitmacht, angeblich im
engsten Anschluss an das Christentum und über dieses hinausschreitend,
ist nur ein neuer Beweis von der weitverbreiteten Oberflächlichkeit
im Denken. Buddha’s Denken und Leben bildet nämlich das genaue
Gegenteil von Christi Denken und Leben, das, was der Logiker die
Antithese, der Physiker den Gegenpol nennt.

Buddha bedeutet den greisenhaften Ausgang einer an der GrenzeBuddha.
ihres Könnens angelangten Kultur. Ein hochgebildeter, mit reicher
Machtfülle begabter Fürst erkennt die Nichtigkeit seiner Bildung und
seiner Macht; was Allen das Höchste dünkt, besitzt er, doch vor dem
Blick des Wahrhaftigen schmilzt dieser Besitz zu einem Nichts zu-
sammen. Die indische Kultur, aus der nachdenklichen Beschaulichkeit
eines Hirtenlebens hervorgegangen, hatte sich mit aller Wucht einer
hohen Begabung auf die Ausbildung der einen menschlichen Anlage,
der kombinierenden Vernunft, geworfen; dabei verkümmerte die Ver-
bindung mit der umgebenden Welt — die kindliche Beobachtung,
die praktisch-geschäftige Nutzbarmachung — wenigstens bei den Ge-
bildeteren fast völlig; Alles war systematisch auf die Entwickelung des
Denkvermögens angelegt; jeder gebildete Jüngling wusste auswendig,
Wort für Wort, eine ganze Litteratur von so subtilem Gedankengehalt,
dass wenige Europäer heutzutage überhaupt fähig sind, demselben zu
folgen; selbst die abstrakteste Vorstellungsart der konkreten Welt, die

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[197/0220] Die Erscheinung Christi. Hierauf komme ich in einem anderen Zusammenhange später zurück. Wenn ich nun an dieser Stelle, wo einzig die Erscheinung Christi mich beschäftigt, Buddha herangezogen habe, so geschah das besonders deswegen, weil nichts eine Gestalt so deutlich hervortreten lässt wie der Vergleich. Nur darf der Vergleich kein ungereimter sein, und ich wüsste nicht, wen die Weltgeschichte ausser Buddha als geeignet zu einem Vergleich mit Christus bietet. Beiden gemeinsam ist der göttliche Ernst; beiden gemeinsam ist die Sehnsucht, der ganzen Menschheit den Weg der Erlösung zu weisen; beiden ist eine un- erhörte Macht der Persönlichkeit eigen. Und dennoch, stellt man diese beiden Gestalten nebeneinander, so kann es nicht sein, um eine Parallele zwischen ihnen zu ziehen, sondern nur um den Kon- trast zu betonen. Christus und Buddha sind Gegensätze. Was sie einigt, ist die Erhabenheit der Gesinnung; aus dieser ging ein Leben ohne Gleichen hervor, und aus dem Leben eine weitreichende Wirkung, wie sie die Welt noch nicht erfahren hatte. Sonst aber trennt sie fast alles, und der Neobuddhismus, der sich in den letzten Jahren in gewissen Gesellschaftsschichten Europas breitmacht, angeblich im engsten Anschluss an das Christentum und über dieses hinausschreitend, ist nur ein neuer Beweis von der weitverbreiteten Oberflächlichkeit im Denken. Buddha’s Denken und Leben bildet nämlich das genaue Gegenteil von Christi Denken und Leben, das, was der Logiker die Antithese, der Physiker den Gegenpol nennt. Buddha bedeutet den greisenhaften Ausgang einer an der Grenze ihres Könnens angelangten Kultur. Ein hochgebildeter, mit reicher Machtfülle begabter Fürst erkennt die Nichtigkeit seiner Bildung und seiner Macht; was Allen das Höchste dünkt, besitzt er, doch vor dem Blick des Wahrhaftigen schmilzt dieser Besitz zu einem Nichts zu- sammen. Die indische Kultur, aus der nachdenklichen Beschaulichkeit eines Hirtenlebens hervorgegangen, hatte sich mit aller Wucht einer hohen Begabung auf die Ausbildung der einen menschlichen Anlage, der kombinierenden Vernunft, geworfen; dabei verkümmerte die Ver- bindung mit der umgebenden Welt — die kindliche Beobachtung, die praktisch-geschäftige Nutzbarmachung — wenigstens bei den Ge- bildeteren fast völlig; Alles war systematisch auf die Entwickelung des Denkvermögens angelegt; jeder gebildete Jüngling wusste auswendig, Wort für Wort, eine ganze Litteratur von so subtilem Gedankengehalt, dass wenige Europäer heutzutage überhaupt fähig sind, demselben zu folgen; selbst die abstrakteste Vorstellungsart der konkreten Welt, die Buddha.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/220>, abgerufen am 24.11.2024.