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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
bildete Phidias sein unsterbliches Werk, den Göttern zu Ehren wurden
die unzähligen kleinen Bildnisse hergestellt, die jedes Haus schmückten
und mit der lebendigen Vorstellung höherer Wesen erfüllten. Den Juden
aber dünkten das Götzen! Bei der Vorherrschaft des Willens sahen
sie sich jedes Ding nur auf den Nutzen an; dass man sich etwas
Schönes vor Augen stellt, um sich daran zu erheben und zu laben, um dem
Gemüt Nahrung zuzuführen, um den religiösen Sinn zu wecken: das war
ihnen unerfasslich. Ebenso haben dann später die Christen Buddha-
bildnisse für Götzen angesehen: die Buddhisten erkennen aber gar
keinen Gott an, viel weniger einen Götzen; diese Statuen sollen zur
Kontemplation und zur Abwendung von der Welt anregen. Ja, in
letzter Zeit beginnen die Ethnographen stark zu bezweifeln, ob es
irgend ein noch so primitives Volk gäbe, welches seine sogenannten
Fetische wirklich als Götzen anbetet. Früher wurde das ohne Weiteres
vorausgesetzt; jetzt entdeckt man in immer mehr Fällen, dass diese
Naturkinder höchst komplizierte symbolische Vorstellungen mit ihren
Fetischen verknüpfen. Es scheint als ob unter allen Menschen einzig
die Semiten es fertig gebracht hätten, goldene Kälber, eherne Schlangen
u. s. w. zu fabrizieren und sie dann anzubeten.1) Und da die Israeliten
schon damals geistig viel entwickelter waren als heutzutage die Austral-
neger es sind, so entnehmen wir daraus, dass hier nicht die noch
mangelnde Unterscheidungsfähigkeit der Grund zu solchen Verirrungen
sein konnte, sondern irgend eine Einseitigkeit des Geistes: diese Ein-
seitigkeit war das abnorme Vorwiegen des Willens. Dem Willen als
solchem fehlt nicht allein jede Phantasie, sondern jede Überlegung;
ihm ist nur ein Einziges natürlich: sich auf das Gegenwärtige zu
stürzen und es zu erfassen. Darum wurde es nie einem Volke so schwer
wie dem israelitischen, sich zu einem hohen Begriff des Göttlichen zu
erheben, und nie wurde es einem Volke so schwer, sich diesen Begriff
rein zu wahren. Doch im Kampfe stählen sich die Kräfte: das un-
religiöseste Volk der Erde schuf in seiner Not die Grundlage zu einem
neuen und erhabensten Gottesbegriff, zu einem Begriff, der Gemeingut
der ganzen gesitteten Menschheit wurde. Denn auf dieser Grundlage
baute Christus; er konnte es, dank jenem "abstrakten Materialismus" den
er um sich fand. Anderswo erstickten die Religionen in dem Reich-
tum ihrer Mythologieen; hier gab es gar keine Mythologie. Anderswo

1) Ich brauche kaum darauf aufmerksam zu machen, wie rein symbolisch die
Kultusformen der Ägypter und der Syrier waren, denen die Juden die Anregung
zu diesen besonderen Gestalten des Stiers und der Schlange entnommen hatten.

Die Erscheinung Christi.
bildete Phidias sein unsterbliches Werk, den Göttern zu Ehren wurden
die unzähligen kleinen Bildnisse hergestellt, die jedes Haus schmückten
und mit der lebendigen Vorstellung höherer Wesen erfüllten. Den Juden
aber dünkten das Götzen! Bei der Vorherrschaft des Willens sahen
sie sich jedes Ding nur auf den Nutzen an; dass man sich etwas
Schönes vor Augen stellt, um sich daran zu erheben und zu laben, um dem
Gemüt Nahrung zuzuführen, um den religiösen Sinn zu wecken: das war
ihnen unerfasslich. Ebenso haben dann später die Christen Buddha-
bildnisse für Götzen angesehen: die Buddhisten erkennen aber gar
keinen Gott an, viel weniger einen Götzen; diese Statuen sollen zur
Kontemplation und zur Abwendung von der Welt anregen. Ja, in
letzter Zeit beginnen die Ethnographen stark zu bezweifeln, ob es
irgend ein noch so primitives Volk gäbe, welches seine sogenannten
Fetische wirklich als Götzen anbetet. Früher wurde das ohne Weiteres
vorausgesetzt; jetzt entdeckt man in immer mehr Fällen, dass diese
Naturkinder höchst komplizierte symbolische Vorstellungen mit ihren
Fetischen verknüpfen. Es scheint als ob unter allen Menschen einzig
die Semiten es fertig gebracht hätten, goldene Kälber, eherne Schlangen
u. s. w. zu fabrizieren und sie dann anzubeten.1) Und da die Israeliten
schon damals geistig viel entwickelter waren als heutzutage die Austral-
neger es sind, so entnehmen wir daraus, dass hier nicht die noch
mangelnde Unterscheidungsfähigkeit der Grund zu solchen Verirrungen
sein konnte, sondern irgend eine Einseitigkeit des Geistes: diese Ein-
seitigkeit war das abnorme Vorwiegen des Willens. Dem Willen als
solchem fehlt nicht allein jede Phantasie, sondern jede Überlegung;
ihm ist nur ein Einziges natürlich: sich auf das Gegenwärtige zu
stürzen und es zu erfassen. Darum wurde es nie einem Volke so schwer
wie dem israelitischen, sich zu einem hohen Begriff des Göttlichen zu
erheben, und nie wurde es einem Volke so schwer, sich diesen Begriff
rein zu wahren. Doch im Kampfe stählen sich die Kräfte: das un-
religiöseste Volk der Erde schuf in seiner Not die Grundlage zu einem
neuen und erhabensten Gottesbegriff, zu einem Begriff, der Gemeingut
der ganzen gesitteten Menschheit wurde. Denn auf dieser Grundlage
baute Christus; er konnte es, dank jenem »abstrakten Materialismus« den
er um sich fand. Anderswo erstickten die Religionen in dem Reich-
tum ihrer Mythologieen; hier gab es gar keine Mythologie. Anderswo

1) Ich brauche kaum darauf aufmerksam zu machen, wie rein symbolisch die
Kultusformen der Ägypter und der Syrier waren, denen die Juden die Anregung
zu diesen besonderen Gestalten des Stiers und der Schlange entnommen hatten.
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[231/0254] Die Erscheinung Christi. bildete Phidias sein unsterbliches Werk, den Göttern zu Ehren wurden die unzähligen kleinen Bildnisse hergestellt, die jedes Haus schmückten und mit der lebendigen Vorstellung höherer Wesen erfüllten. Den Juden aber dünkten das Götzen! Bei der Vorherrschaft des Willens sahen sie sich jedes Ding nur auf den Nutzen an; dass man sich etwas Schönes vor Augen stellt, um sich daran zu erheben und zu laben, um dem Gemüt Nahrung zuzuführen, um den religiösen Sinn zu wecken: das war ihnen unerfasslich. Ebenso haben dann später die Christen Buddha- bildnisse für Götzen angesehen: die Buddhisten erkennen aber gar keinen Gott an, viel weniger einen Götzen; diese Statuen sollen zur Kontemplation und zur Abwendung von der Welt anregen. Ja, in letzter Zeit beginnen die Ethnographen stark zu bezweifeln, ob es irgend ein noch so primitives Volk gäbe, welches seine sogenannten Fetische wirklich als Götzen anbetet. Früher wurde das ohne Weiteres vorausgesetzt; jetzt entdeckt man in immer mehr Fällen, dass diese Naturkinder höchst komplizierte symbolische Vorstellungen mit ihren Fetischen verknüpfen. Es scheint als ob unter allen Menschen einzig die Semiten es fertig gebracht hätten, goldene Kälber, eherne Schlangen u. s. w. zu fabrizieren und sie dann anzubeten. 1) Und da die Israeliten schon damals geistig viel entwickelter waren als heutzutage die Austral- neger es sind, so entnehmen wir daraus, dass hier nicht die noch mangelnde Unterscheidungsfähigkeit der Grund zu solchen Verirrungen sein konnte, sondern irgend eine Einseitigkeit des Geistes: diese Ein- seitigkeit war das abnorme Vorwiegen des Willens. Dem Willen als solchem fehlt nicht allein jede Phantasie, sondern jede Überlegung; ihm ist nur ein Einziges natürlich: sich auf das Gegenwärtige zu stürzen und es zu erfassen. Darum wurde es nie einem Volke so schwer wie dem israelitischen, sich zu einem hohen Begriff des Göttlichen zu erheben, und nie wurde es einem Volke so schwer, sich diesen Begriff rein zu wahren. Doch im Kampfe stählen sich die Kräfte: das un- religiöseste Volk der Erde schuf in seiner Not die Grundlage zu einem neuen und erhabensten Gottesbegriff, zu einem Begriff, der Gemeingut der ganzen gesitteten Menschheit wurde. Denn auf dieser Grundlage baute Christus; er konnte es, dank jenem »abstrakten Materialismus« den er um sich fand. Anderswo erstickten die Religionen in dem Reich- tum ihrer Mythologieen; hier gab es gar keine Mythologie. Anderswo 1) Ich brauche kaum darauf aufmerksam zu machen, wie rein symbolisch die Kultusformen der Ägypter und der Syrier waren, denen die Juden die Anregung zu diesen besonderen Gestalten des Stiers und der Schlange entnommen hatten.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/254>, abgerufen am 22.11.2024.