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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
die es nicht gebaut, Weinberge, die es nicht gepflanzt hat, so thut er
es und vernichtet die unschuldigen Besitzer; eine Themis giebt es
nicht. Ebenso die göttliche Gesetzgebung. Neben moralischen Ge-
boten, die zum Teil hohe Sittlichkeit und Menschlichkeit atmen,
stehen direkt unsittliche und unmenschliche,1) andere wiederum be-
stimmen die trivialsten Dinge: was man essen und was man nicht
essen darf, wie man sich waschen soll u. s. w., kurz, überall die
unbeschränkte Willkür. Wer tiefer blickt, wird nicht umhin können,
hier die Verwandtschaft zwischen dem ursemitischen Götzenkultus und
dem Jahveglauben zu erblicken. Von dem indoeuropäischen Standpunkt
aus betrachtet, wäre Jahve eigentlich eher ein idealisierter Götze,
oder wenn man will, ein Anti-Götze zu nennen als ein Gott. Dafür
enthält jedoch diese Gottesauffassung etwas, was ebensowenig wie die
Willkür aus der Beobachtung der Natur zu entnehmen war: den Ge-
danken an eine Vorsehung! Nach Renan ist "der übertriebene
Glaube an eine besondere Vorsehung die Basis der ganzen jüdischen
Religion".2) Ausserdem hängt mit jener Freiheit des Gottes eine
andere eng zusammen: die Freiheit des menschlichen Willens. Das
liberum arbitrium ist entschieden eine semitische, und in seiner
vollen Ausbildung speziell eine jüdische Vorstellung; sie hängt mit der
besonderen Gottesidee unzertrennlich zusammen.3) Die Freiheit des
Willens bedeutet nicht weniger als ewig wiederholte Schöpfungsakte;
bedenkt man das, so begreift man, dass diese Annahme (sobald sie

1) Neben den unzähligen göttlich befohlenen Raubzügen mit Massenmord,
wo auch "die Köpfe der Kinder gegen die Steine zerschellt" werden sollten,
bemerke man die Fälle, wo geboten wird "den Bruder, Freund und Nächsten"
meuchelmörderisch zu überfallen (2. Mose XXXII, 27), und auch die Ekel erregenden
Befehle, wie Hesekiel IV, 12--15.
2) Histoire du peuple d'Israel II, S. 111.
3) Mit welchem sehr logischen Fanatismus die Rabbiner bis heute die
unbedingte und nicht etwa metaphysisch zu deutende Freiheit des Willens ver-
fechten, kann man in jeder Geschichte |des Judentums verfolgen. Diderot sagt:
"Les Juifs sont si jaloux de cette liberte d'indifference, qu'ils s'imaginent qu'il est im-
possible de penser sur cette matiere autrement qu'eux".
Und wie genau dieser Begriff
mit der Freiheit Gottes und mit der Vorsehung zusammenhängt, erhellt aus dem
Sturm, den es hervorrief, als Maimonides die göttliche Vorsehung auf die Mensch-
heit beschränken wollte und behauptete, nicht jedes Blatt werde durch sie bewegt,
nicht jeder Wurm durch ihren Willen erzeugt. -- Von den sog. "Grundsentenzen"
des berühmten Talmudisten Rabbi Akiba lauten die beiden ersten: 1. Alles und
Jedes ist von Gottes Vorsehung beaufsichtigt; 2. die Willensfreiheit ist gesetzt
(Hirsch Graetz: Gnosticismus und Judentum, 1846, S. 91).
16*

Die Erscheinung Christi.
die es nicht gebaut, Weinberge, die es nicht gepflanzt hat, so thut er
es und vernichtet die unschuldigen Besitzer; eine Themis giebt es
nicht. Ebenso die göttliche Gesetzgebung. Neben moralischen Ge-
boten, die zum Teil hohe Sittlichkeit und Menschlichkeit atmen,
stehen direkt unsittliche und unmenschliche,1) andere wiederum be-
stimmen die trivialsten Dinge: was man essen und was man nicht
essen darf, wie man sich waschen soll u. s. w., kurz, überall die
unbeschränkte Willkür. Wer tiefer blickt, wird nicht umhin können,
hier die Verwandtschaft zwischen dem ursemitischen Götzenkultus und
dem Jahveglauben zu erblicken. Von dem indoeuropäischen Standpunkt
aus betrachtet, wäre Jahve eigentlich eher ein idealisierter Götze,
oder wenn man will, ein Anti-Götze zu nennen als ein Gott. Dafür
enthält jedoch diese Gottesauffassung etwas, was ebensowenig wie die
Willkür aus der Beobachtung der Natur zu entnehmen war: den Ge-
danken an eine Vorsehung! Nach Renan ist »der übertriebene
Glaube an eine besondere Vorsehung die Basis der ganzen jüdischen
Religion«.2) Ausserdem hängt mit jener Freiheit des Gottes eine
andere eng zusammen: die Freiheit des menschlichen Willens. Das
liberum arbitrium ist entschieden eine semitische, und in seiner
vollen Ausbildung speziell eine jüdische Vorstellung; sie hängt mit der
besonderen Gottesidee unzertrennlich zusammen.3) Die Freiheit des
Willens bedeutet nicht weniger als ewig wiederholte Schöpfungsakte;
bedenkt man das, so begreift man, dass diese Annahme (sobald sie

1) Neben den unzähligen göttlich befohlenen Raubzügen mit Massenmord,
wo auch »die Köpfe der Kinder gegen die Steine zerschellt« werden sollten,
bemerke man die Fälle, wo geboten wird »den Bruder, Freund und Nächsten«
meuchelmörderisch zu überfallen (2. Mose XXXII, 27), und auch die Ekel erregenden
Befehle, wie Hesekiel IV, 12—15.
2) Histoire du peuple d’Israël II, S. 111.
3) Mit welchem sehr logischen Fanatismus die Rabbiner bis heute die
unbedingte und nicht etwa metaphysisch zu deutende Freiheit des Willens ver-
fechten, kann man in jeder Geschichte |des Judentums verfolgen. Diderot sagt:
»Les Juifs sont si jaloux de cette liberté d’indifférence, qu’ils s’imaginent qu’il est im-
possible de penser sur cette matière autrement qu’eux«.
Und wie genau dieser Begriff
mit der Freiheit Gottes und mit der Vorsehung zusammenhängt, erhellt aus dem
Sturm, den es hervorrief, als Maimonides die göttliche Vorsehung auf die Mensch-
heit beschränken wollte und behauptete, nicht jedes Blatt werde durch sie bewegt,
nicht jeder Wurm durch ihren Willen erzeugt. — Von den sog. »Grundsentenzen«
des berühmten Talmudisten Rabbi Akiba lauten die beiden ersten: 1. Alles und
Jedes ist von Gottes Vorsehung beaufsichtigt; 2. die Willensfreiheit ist gesetzt
(Hirsch Graetz: Gnosticismus und Judentum, 1846, S. 91).
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[243/0266] Die Erscheinung Christi. die es nicht gebaut, Weinberge, die es nicht gepflanzt hat, so thut er es und vernichtet die unschuldigen Besitzer; eine Themis giebt es nicht. Ebenso die göttliche Gesetzgebung. Neben moralischen Ge- boten, die zum Teil hohe Sittlichkeit und Menschlichkeit atmen, stehen direkt unsittliche und unmenschliche, 1) andere wiederum be- stimmen die trivialsten Dinge: was man essen und was man nicht essen darf, wie man sich waschen soll u. s. w., kurz, überall die unbeschränkte Willkür. Wer tiefer blickt, wird nicht umhin können, hier die Verwandtschaft zwischen dem ursemitischen Götzenkultus und dem Jahveglauben zu erblicken. Von dem indoeuropäischen Standpunkt aus betrachtet, wäre Jahve eigentlich eher ein idealisierter Götze, oder wenn man will, ein Anti-Götze zu nennen als ein Gott. Dafür enthält jedoch diese Gottesauffassung etwas, was ebensowenig wie die Willkür aus der Beobachtung der Natur zu entnehmen war: den Ge- danken an eine Vorsehung! Nach Renan ist »der übertriebene Glaube an eine besondere Vorsehung die Basis der ganzen jüdischen Religion«. 2) Ausserdem hängt mit jener Freiheit des Gottes eine andere eng zusammen: die Freiheit des menschlichen Willens. Das liberum arbitrium ist entschieden eine semitische, und in seiner vollen Ausbildung speziell eine jüdische Vorstellung; sie hängt mit der besonderen Gottesidee unzertrennlich zusammen. 3) Die Freiheit des Willens bedeutet nicht weniger als ewig wiederholte Schöpfungsakte; bedenkt man das, so begreift man, dass diese Annahme (sobald sie 1) Neben den unzähligen göttlich befohlenen Raubzügen mit Massenmord, wo auch »die Köpfe der Kinder gegen die Steine zerschellt« werden sollten, bemerke man die Fälle, wo geboten wird »den Bruder, Freund und Nächsten« meuchelmörderisch zu überfallen (2. Mose XXXII, 27), und auch die Ekel erregenden Befehle, wie Hesekiel IV, 12—15. 2) Histoire du peuple d’Israël II, S. 111. 3) Mit welchem sehr logischen Fanatismus die Rabbiner bis heute die unbedingte und nicht etwa metaphysisch zu deutende Freiheit des Willens ver- fechten, kann man in jeder Geschichte |des Judentums verfolgen. Diderot sagt: »Les Juifs sont si jaloux de cette liberté d’indifférence, qu’ils s’imaginent qu’il est im- possible de penser sur cette matière autrement qu’eux«. Und wie genau dieser Begriff mit der Freiheit Gottes und mit der Vorsehung zusammenhängt, erhellt aus dem Sturm, den es hervorrief, als Maimonides die göttliche Vorsehung auf die Mensch- heit beschränken wollte und behauptete, nicht jedes Blatt werde durch sie bewegt, nicht jeder Wurm durch ihren Willen erzeugt. — Von den sog. »Grundsentenzen« des berühmten Talmudisten Rabbi Akiba lauten die beiden ersten: 1. Alles und Jedes ist von Gottes Vorsehung beaufsichtigt; 2. die Willensfreiheit ist gesetzt (Hirsch Graetz: Gnosticismus und Judentum, 1846, S. 91). 16*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/266>, abgerufen am 24.11.2024.