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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
wir unter dem Namen "Arier" zusammenzufassen gelernt haben, weit
von einander ab; sie weisen den verschiedensten Schädelbau auf, auch
verschiedene Farbe der Haut, der Augen und des Haares; und gesetzt,
es habe eine gemeinsame indoeuropäische Urrasse gegeben, was kann
man gegen das sich täglich anhäufende Material anführen, welches
wahrscheinlich macht, dass auch andere, ganz unverwandte Typen
von jeher in unseren heutigen sog. arischen Nationen reichlich ver-
treten sind, wonach man höchstens von einzelnen Individuen, nimmer
von einem ganzen Volk sagen dürfte, es sei "arisch"? Sprachliche
Verwandtschaft liefert keinen zwingenden Beweis für Gemeinschaft
des Blutes; die auf sehr geringe Indizien hin vorausgesetzte Ein-
wanderung der sogenannten Indoeuropäer aus Asien stösst auf die
grosse Schwierigkeit, dass die Forschung immer mehr Gründe zu der
Annahme findet, die Bevölkerung, welche wir als europäische Arier
zu bezeichnen pflegen, sei seit undenklichen Zeiten in Europa an-
sässig;1) für die umgekehrte Hypothese einer Kolonisation Indiens von
Europa aus finden sich nicht die geringsten Anhaltspunkte ... kurz,
es ist diese Frage das, was die Bergleute ein "schwimmendes Land"
nennen; wer die Gefahr kennt, wagt sich möglichst wenig darauf.
Je mehr man sich bei den Fachmännern erkundigt, um so weniger
kennt man sich aus. Ursprünglich waren es die Sprachforscher, die den
Kollektivbegriff "Arier" aufstellten. Dann kamen die anatomischen
Anthropologen; die Unzulässigkeit der Schlüsse aus blosser Sprachen-
kunde wurde dargethan, und nun ging es ans Schädelmessen; die
Craniometrie wurde ein Beruf, sie lieferte auch eine Menge enorm
interessanten Materials; neuerdings aber ereilt diese sog. "somatische
Anthropologie" dasselbe Schicksal wie seiner Zeit die Linguistik: die

(Paris 1896, S. 15): "Le terme d'aryen est de pure convention; les peuples eraniens
au nord et les tribus hindoues au sud du Caucase indien, different absolument comme
type et descendent, sans aucun doute, de deux races differentes.
"
1) G. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte), der die Frage mehr
vom rein linguistischen Standpunkt aus studiert hat, gelangt zu dem Schluss: "die
uralte Ansässigkeit der Indogermanen in Europa ist erwiesen"; Johannes Ranke
(Der Mensch) meint, es sei nunmehr erhärtet, dass wenigstens ein grosser Teil der
Bevölkerung Europas schon zur Steinzeit "Arier gewesen sind"; und Virchow,
dessen Autorität auf anthropologischem Gebiete um so grösser ist, als er un-
bedingten Respekt für Thatsachen beweist, und nicht wie Huxley und manche
Andere darwinistische Luftschlösser aufbaut, Virchow meint, man könne nach dem
anatomischen Befund die Behauptung aufstellen: "Die ältesten Troglodyten Europas
seien von arischem Stamme gewesen!" (nach Ranke II, 578 citiert).

Die Erben.
wir unter dem Namen »Arier« zusammenzufassen gelernt haben, weit
von einander ab; sie weisen den verschiedensten Schädelbau auf, auch
verschiedene Farbe der Haut, der Augen und des Haares; und gesetzt,
es habe eine gemeinsame indoeuropäische Urrasse gegeben, was kann
man gegen das sich täglich anhäufende Material anführen, welches
wahrscheinlich macht, dass auch andere, ganz unverwandte Typen
von jeher in unseren heutigen sog. arischen Nationen reichlich ver-
treten sind, wonach man höchstens von einzelnen Individuen, nimmer
von einem ganzen Volk sagen dürfte, es sei »arisch«? Sprachliche
Verwandtschaft liefert keinen zwingenden Beweis für Gemeinschaft
des Blutes; die auf sehr geringe Indizien hin vorausgesetzte Ein-
wanderung der sogenannten Indoeuropäer aus Asien stösst auf die
grosse Schwierigkeit, dass die Forschung immer mehr Gründe zu der
Annahme findet, die Bevölkerung, welche wir als europäische Arier
zu bezeichnen pflegen, sei seit undenklichen Zeiten in Europa an-
sässig;1) für die umgekehrte Hypothese einer Kolonisation Indiens von
Europa aus finden sich nicht die geringsten Anhaltspunkte … kurz,
es ist diese Frage das, was die Bergleute ein »schwimmendes Land«
nennen; wer die Gefahr kennt, wagt sich möglichst wenig darauf.
Je mehr man sich bei den Fachmännern erkundigt, um so weniger
kennt man sich aus. Ursprünglich waren es die Sprachforscher, die den
Kollektivbegriff »Arier« aufstellten. Dann kamen die anatomischen
Anthropologen; die Unzulässigkeit der Schlüsse aus blosser Sprachen-
kunde wurde dargethan, und nun ging es ans Schädelmessen; die
Craniometrie wurde ein Beruf, sie lieferte auch eine Menge enorm
interessanten Materials; neuerdings aber ereilt diese sog. »somatische
Anthropologie« dasselbe Schicksal wie seiner Zeit die Linguistik: die

(Paris 1896, S. 15): »Le terme d’aryen est de pure convention; les peuples éraniens
au nord et les tribus hindoues au sud du Caucase indien, diffèrent absolument comme
type et descendent, sans aucun doute, de deux races différentes.
«
1) G. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte), der die Frage mehr
vom rein linguistischen Standpunkt aus studiert hat, gelangt zu dem Schluss: »die
uralte Ansässigkeit der Indogermanen in Europa ist erwiesen«; Johannes Ranke
(Der Mensch) meint, es sei nunmehr erhärtet, dass wenigstens ein grosser Teil der
Bevölkerung Europas schon zur Steinzeit »Arier gewesen sind«; und Virchow,
dessen Autorität auf anthropologischem Gebiete um so grösser ist, als er un-
bedingten Respekt für Thatsachen beweist, und nicht wie Huxley und manche
Andere darwinistische Luftschlösser aufbaut, Virchow meint, man könne nach dem
anatomischen Befund die Behauptung aufstellen: »Die ältesten Troglodyten Europas
seien von arischem Stamme gewesen!« (nach Ranke II, 578 citiert).
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[268/0291] Die Erben. wir unter dem Namen »Arier« zusammenzufassen gelernt haben, weit von einander ab; sie weisen den verschiedensten Schädelbau auf, auch verschiedene Farbe der Haut, der Augen und des Haares; und gesetzt, es habe eine gemeinsame indoeuropäische Urrasse gegeben, was kann man gegen das sich täglich anhäufende Material anführen, welches wahrscheinlich macht, dass auch andere, ganz unverwandte Typen von jeher in unseren heutigen sog. arischen Nationen reichlich ver- treten sind, wonach man höchstens von einzelnen Individuen, nimmer von einem ganzen Volk sagen dürfte, es sei »arisch«? Sprachliche Verwandtschaft liefert keinen zwingenden Beweis für Gemeinschaft des Blutes; die auf sehr geringe Indizien hin vorausgesetzte Ein- wanderung der sogenannten Indoeuropäer aus Asien stösst auf die grosse Schwierigkeit, dass die Forschung immer mehr Gründe zu der Annahme findet, die Bevölkerung, welche wir als europäische Arier zu bezeichnen pflegen, sei seit undenklichen Zeiten in Europa an- sässig; 1) für die umgekehrte Hypothese einer Kolonisation Indiens von Europa aus finden sich nicht die geringsten Anhaltspunkte … kurz, es ist diese Frage das, was die Bergleute ein »schwimmendes Land« nennen; wer die Gefahr kennt, wagt sich möglichst wenig darauf. Je mehr man sich bei den Fachmännern erkundigt, um so weniger kennt man sich aus. Ursprünglich waren es die Sprachforscher, die den Kollektivbegriff »Arier« aufstellten. Dann kamen die anatomischen Anthropologen; die Unzulässigkeit der Schlüsse aus blosser Sprachen- kunde wurde dargethan, und nun ging es ans Schädelmessen; die Craniometrie wurde ein Beruf, sie lieferte auch eine Menge enorm interessanten Materials; neuerdings aber ereilt diese sog. »somatische Anthropologie« dasselbe Schicksal wie seiner Zeit die Linguistik: die 1) 1) G. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte), der die Frage mehr vom rein linguistischen Standpunkt aus studiert hat, gelangt zu dem Schluss: »die uralte Ansässigkeit der Indogermanen in Europa ist erwiesen«; Johannes Ranke (Der Mensch) meint, es sei nunmehr erhärtet, dass wenigstens ein grosser Teil der Bevölkerung Europas schon zur Steinzeit »Arier gewesen sind«; und Virchow, dessen Autorität auf anthropologischem Gebiete um so grösser ist, als er un- bedingten Respekt für Thatsachen beweist, und nicht wie Huxley und manche Andere darwinistische Luftschlösser aufbaut, Virchow meint, man könne nach dem anatomischen Befund die Behauptung aufstellen: »Die ältesten Troglodyten Europas seien von arischem Stamme gewesen!« (nach Ranke II, 578 citiert). 1) (Paris 1896, S. 15): »Le terme d’aryen est de pure convention; les peuples éraniens au nord et les tribus hindoues au sud du Caucase indien, diffèrent absolument comme type et descendent, sans aucun doute, de deux races différentes.«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/291>, abgerufen am 26.11.2024.