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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
Ethnographen haben zu reisen und wissenschaftlich-planmässige Be-
obachtungen am lebenden Menschen zu unternehmen begonnen
und dabei dargethan, dass der Knochenmessung durchaus nicht die
Wichtigkeit zukommt, die man ihr beizulegen pflegte; einer der be-
deutendsten Schüler Virchow's ist zu der Überzeugung gelangt: der
Gedanke, durch Schädelmessungen Probleme der Völkerkunde zu
lösen, ist unfruchtbar.1) Diese ganze Entwickelung hat in der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts stattgefunden; wer weiss, was man im
Jahre 1950 über den "Arier" lehrt? Heute jedenfalls, ich wiederhole
es, kann der Laie nur schweigen.2) Schlägt er aber bei einem der
anerkannten Fachmänner nach, so wird er belehrt, die Arier "seien
eine Erfindung der Studierstube und kein Urvolk",3) erkundigt er
sich bei einem anderen, so wird ihm geantwortet, die gemeinsamen
Merkmale der Indoeuropäer, vom Atlantischen Ozean bis nach Indien,
seien genügend, um die thatsächliche Blutsverwandtschaft
ausser allen Zweifel zu stellen.4)

Ich hoffe in diesen zwei Absätzen die grosse Konfusion ver-
anschaulicht zu haben, welche unter uns heute in Bezug auf den
Begriff "Rasse" besteht. Diese Konfusion ist nicht nötig, d. h., bei

1) Ehrenreich: Anthropologische Studien über die Urbewohner Brasiliens (1897).
2) Wenn ich in diesem Buche das Wort Arier gebrauche, so thue ich es in
dem Sinne des ursprünglichen Sanskritwortes arya = "zu den Freunden gehörig",
ohne mich zu irgend einer Hypothese zu verpflichten. Die Verwandtschaft im
Denken und im Fühlen bedeutet auf alle Fälle eine Zusammengehörigkeit. (Vgl.
das S. 121, Anmerk. 1 Gesagte).
3) R. Hartmann: Die Negritier (1876) S. 185. Ähnlich Luschan und viele
Forscher. Salomon Reinach z. B. (L'origine des Aryens, 1892, S. 90) schreibt:
"Parler d'une race aryenne d'il y a trois mille ans, c'est emettre une hypothese gratuite: en
parler comme si elle existait encore aujourd'hui, c'est dire tout simplement une absurdite
".
4) Friedrich Ratzel, Johannes Ranke, Paul Ehrenreich u. s. w. Überhaupt die
neueren, vielgereisten Ethnographen. Jedoch geschieht das mit vielen Schwankungen,
da die Verwandtschaft nicht notwendigerweise auf gemeinsamen Ursprung, sondern
auch auf Kreuzung beruhen könnte. Ratzel z. B., der an einer Stelle die Ein-
heitlichkeit der gesamten indoeuropäischen arischen Rasse positiv behauptet (siehe
Litterarisches Centralblatt, 1897, S. 1295) sagt an einer anderen (Völkerkunde, 1895,
II., 751): "die Annahme, dass alle diese Völker einerlei Ursprungs seien, ist nicht
notwendig oder wahrscheinlich". -- Sehr bemerkenswert ist es, dass auch die
Leugner der arischen Rasse nichtsdestoweniger immerfort von ihr sprechen; als
"working hypothesis" können sie sie nicht entbehren. Selbst Reinach redet, nachdem
er nachgewiesen hat, eine arische Rasse habe es niemals gegeben, später doch in
einem unvorsichtigen Augenblick von dem "gemeinsamen Ursprung der Semiten
und der Arier" (a. a. O., S. 98).

Das Völkerchaos.
Ethnographen haben zu reisen und wissenschaftlich-planmässige Be-
obachtungen am lebenden Menschen zu unternehmen begonnen
und dabei dargethan, dass der Knochenmessung durchaus nicht die
Wichtigkeit zukommt, die man ihr beizulegen pflegte; einer der be-
deutendsten Schüler Virchow’s ist zu der Überzeugung gelangt: der
Gedanke, durch Schädelmessungen Probleme der Völkerkunde zu
lösen, ist unfruchtbar.1) Diese ganze Entwickelung hat in der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts stattgefunden; wer weiss, was man im
Jahre 1950 über den »Arier« lehrt? Heute jedenfalls, ich wiederhole
es, kann der Laie nur schweigen.2) Schlägt er aber bei einem der
anerkannten Fachmänner nach, so wird er belehrt, die Arier »seien
eine Erfindung der Studierstube und kein Urvolk«,3) erkundigt er
sich bei einem anderen, so wird ihm geantwortet, die gemeinsamen
Merkmale der Indoeuropäer, vom Atlantischen Ozean bis nach Indien,
seien genügend, um die thatsächliche Blutsverwandtschaft
ausser allen Zweifel zu stellen.4)

Ich hoffe in diesen zwei Absätzen die grosse Konfusion ver-
anschaulicht zu haben, welche unter uns heute in Bezug auf den
Begriff »Rasse« besteht. Diese Konfusion ist nicht nötig, d. h., bei

1) Ehrenreich: Anthropologische Studien über die Urbewohner Brasiliens (1897).
2) Wenn ich in diesem Buche das Wort Arier gebrauche, so thue ich es in
dem Sinne des ursprünglichen Sanskritwortes ârya = »zu den Freunden gehörig«,
ohne mich zu irgend einer Hypothese zu verpflichten. Die Verwandtschaft im
Denken und im Fühlen bedeutet auf alle Fälle eine Zusammengehörigkeit. (Vgl.
das S. 121, Anmerk. 1 Gesagte).
3) R. Hartmann: Die Negritier (1876) S. 185. Ähnlich Luschan und viele
Forscher. Salomon Reinach z. B. (L’origine des Aryens, 1892, S. 90) schreibt:
»Parler d’une race aryenne d’il y a trois mille ans, c’est émettre une hypothèse gratuite: en
parler comme si elle existait encore aujourd’hui, c’est dire tout simplement une absurdité
«.
4) Friedrich Ratzel, Johannes Ranke, Paul Ehrenreich u. s. w. Überhaupt die
neueren, vielgereisten Ethnographen. Jedoch geschieht das mit vielen Schwankungen,
da die Verwandtschaft nicht notwendigerweise auf gemeinsamen Ursprung, sondern
auch auf Kreuzung beruhen könnte. Ratzel z. B., der an einer Stelle die Ein-
heitlichkeit der gesamten indoeuropäischen arischen Rasse positiv behauptet (siehe
Litterarisches Centralblatt, 1897, S. 1295) sagt an einer anderen (Völkerkunde, 1895,
II., 751): »die Annahme, dass alle diese Völker einerlei Ursprungs seien, ist nicht
notwendig oder wahrscheinlich«. — Sehr bemerkenswert ist es, dass auch die
Leugner der arischen Rasse nichtsdestoweniger immerfort von ihr sprechen; als
»working hypothesis« können sie sie nicht entbehren. Selbst Reinach redet, nachdem
er nachgewiesen hat, eine arische Rasse habe es niemals gegeben, später doch in
einem unvorsichtigen Augenblick von dem »gemeinsamen Ursprung der Semiten
und der Arier« (a. a. O., S. 98).
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[269/0292] Das Völkerchaos. Ethnographen haben zu reisen und wissenschaftlich-planmässige Be- obachtungen am lebenden Menschen zu unternehmen begonnen und dabei dargethan, dass der Knochenmessung durchaus nicht die Wichtigkeit zukommt, die man ihr beizulegen pflegte; einer der be- deutendsten Schüler Virchow’s ist zu der Überzeugung gelangt: der Gedanke, durch Schädelmessungen Probleme der Völkerkunde zu lösen, ist unfruchtbar. 1) Diese ganze Entwickelung hat in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts stattgefunden; wer weiss, was man im Jahre 1950 über den »Arier« lehrt? Heute jedenfalls, ich wiederhole es, kann der Laie nur schweigen. 2) Schlägt er aber bei einem der anerkannten Fachmänner nach, so wird er belehrt, die Arier »seien eine Erfindung der Studierstube und kein Urvolk«, 3) erkundigt er sich bei einem anderen, so wird ihm geantwortet, die gemeinsamen Merkmale der Indoeuropäer, vom Atlantischen Ozean bis nach Indien, seien genügend, um die thatsächliche Blutsverwandtschaft ausser allen Zweifel zu stellen. 4) Ich hoffe in diesen zwei Absätzen die grosse Konfusion ver- anschaulicht zu haben, welche unter uns heute in Bezug auf den Begriff »Rasse« besteht. Diese Konfusion ist nicht nötig, d. h., bei 1) Ehrenreich: Anthropologische Studien über die Urbewohner Brasiliens (1897). 2) Wenn ich in diesem Buche das Wort Arier gebrauche, so thue ich es in dem Sinne des ursprünglichen Sanskritwortes ârya = »zu den Freunden gehörig«, ohne mich zu irgend einer Hypothese zu verpflichten. Die Verwandtschaft im Denken und im Fühlen bedeutet auf alle Fälle eine Zusammengehörigkeit. (Vgl. das S. 121, Anmerk. 1 Gesagte). 3) R. Hartmann: Die Negritier (1876) S. 185. Ähnlich Luschan und viele Forscher. Salomon Reinach z. B. (L’origine des Aryens, 1892, S. 90) schreibt: »Parler d’une race aryenne d’il y a trois mille ans, c’est émettre une hypothèse gratuite: en parler comme si elle existait encore aujourd’hui, c’est dire tout simplement une absurdité«. 4) Friedrich Ratzel, Johannes Ranke, Paul Ehrenreich u. s. w. Überhaupt die neueren, vielgereisten Ethnographen. Jedoch geschieht das mit vielen Schwankungen, da die Verwandtschaft nicht notwendigerweise auf gemeinsamen Ursprung, sondern auch auf Kreuzung beruhen könnte. Ratzel z. B., der an einer Stelle die Ein- heitlichkeit der gesamten indoeuropäischen arischen Rasse positiv behauptet (siehe Litterarisches Centralblatt, 1897, S. 1295) sagt an einer anderen (Völkerkunde, 1895, II., 751): »die Annahme, dass alle diese Völker einerlei Ursprungs seien, ist nicht notwendig oder wahrscheinlich«. — Sehr bemerkenswert ist es, dass auch die Leugner der arischen Rasse nichtsdestoweniger immerfort von ihr sprechen; als »working hypothesis« können sie sie nicht entbehren. Selbst Reinach redet, nachdem er nachgewiesen hat, eine arische Rasse habe es niemals gegeben, später doch in einem unvorsichtigen Augenblick von dem »gemeinsamen Ursprung der Semiten und der Arier« (a. a. O., S. 98).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/292>, abgerufen am 26.11.2024.