Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Allgemeine Einleitung. manische Stil", wie ihn Rumohr mit Recht benennen wollte): fast alleMeisterwerke der Kirchenbaukunst, deren unvergleichliche Schönheit wir heute nur anstaunen, nicht nachahmen können, sind aus jenem einen Säculum. Inzwischen war (kurz vor dem Jahre 1200) in Bologna die erste rein weltliche Universität entstanden, an der nur Jurisprudenz, Philo- sophie und Medizin gelehrt wurden.1) -- -- -- -- Man sieht, in wie mannigfaltiger Weise sich ein neues Leben um das Jahr 1200 herum kundzuthun begann. Ein paar Namen würden nichts beweisen; dass aber eine Bewegung alle Länder und alle Kreise erfasst, dass die widersprechendsten Erscheinungen alle auf eine ähnliche Ursache zurück-, und auf ein gemeinsames Ziel hinweisen, das gerade zeigt, dass es sich hier nicht um Zufälliges und Individuelles, sondern um einen grossen, allgemeinen, mit unbewusster Notwendigkeit sich voll- ziehenden Vorgang im innersten Herzen der Gesellschaft handelt. Auch jener eigentümliche "Verfall des historischen Sinnes und ge- schichtlichen Verständnisses um die Mitte des 13. Jahrhunderts", auf den verschiedene Gelehrte mit Verwunderung aufmerksam machen,2) scheint mir hierher zu gehören: die Menschheit hat eben unter Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, sie ist gewisser- massen auf ihrem Wege um eine Ecke gebogen und verliert plötz- lich selbst die letzte Vergangenheit aus den Augen; nunmehr gehört sie der Zukunft an. Höchst überraschend ist es festzustellen, dass gerade in diesem 1) Die theologische Fakultät wurde erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts errichtet (Savigny). 2) Siehe z. B. Döllinger: Das Kaisertum Karl's des Grossen (Akad. Vor-
träge III, 156). Allgemeine Einleitung. manische Stil«, wie ihn Rumohr mit Recht benennen wollte): fast alleMeisterwerke der Kirchenbaukunst, deren unvergleichliche Schönheit wir heute nur anstaunen, nicht nachahmen können, sind aus jenem einen Säculum. Inzwischen war (kurz vor dem Jahre 1200) in Bologna die erste rein weltliche Universität entstanden, an der nur Jurisprudenz, Philo- sophie und Medizin gelehrt wurden.1) — — — — Man sieht, in wie mannigfaltiger Weise sich ein neues Leben um das Jahr 1200 herum kundzuthun begann. Ein paar Namen würden nichts beweisen; dass aber eine Bewegung alle Länder und alle Kreise erfasst, dass die widersprechendsten Erscheinungen alle auf eine ähnliche Ursache zurück-, und auf ein gemeinsames Ziel hinweisen, das gerade zeigt, dass es sich hier nicht um Zufälliges und Individuelles, sondern um einen grossen, allgemeinen, mit unbewusster Notwendigkeit sich voll- ziehenden Vorgang im innersten Herzen der Gesellschaft handelt. Auch jener eigentümliche »Verfall des historischen Sinnes und ge- schichtlichen Verständnisses um die Mitte des 13. Jahrhunderts«, auf den verschiedene Gelehrte mit Verwunderung aufmerksam machen,2) scheint mir hierher zu gehören: die Menschheit hat eben unter Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, sie ist gewisser- massen auf ihrem Wege um eine Ecke gebogen und verliert plötz- lich selbst die letzte Vergangenheit aus den Augen; nunmehr gehört sie der Zukunft an. Höchst überraschend ist es festzustellen, dass gerade in diesem 1) Die theologische Fakultät wurde erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts errichtet (Savigny). 2) Siehe z. B. Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen (Akad. Vor-
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Allgemeine Einleitung.
manische Stil«, wie ihn Rumohr mit Recht benennen wollte): fast alle
Meisterwerke der Kirchenbaukunst, deren unvergleichliche Schönheit wir
heute nur anstaunen, nicht nachahmen können, sind aus jenem einen
Säculum. Inzwischen war (kurz vor dem Jahre 1200) in Bologna die erste
rein weltliche Universität entstanden, an der nur Jurisprudenz, Philo-
sophie und Medizin gelehrt wurden. 1) — — — — Man sieht, in wie
mannigfaltiger Weise sich ein neues Leben um das Jahr 1200 herum
kundzuthun begann. Ein paar Namen würden nichts beweisen; dass
aber eine Bewegung alle Länder und alle Kreise erfasst, dass die
widersprechendsten Erscheinungen alle auf eine ähnliche Ursache
zurück-, und auf ein gemeinsames Ziel hinweisen, das gerade zeigt,
dass es sich hier nicht um Zufälliges und Individuelles, sondern um
einen grossen, allgemeinen, mit unbewusster Notwendigkeit sich voll-
ziehenden Vorgang im innersten Herzen der Gesellschaft handelt.
Auch jener eigentümliche »Verfall des historischen Sinnes und ge-
schichtlichen Verständnisses um die Mitte des 13. Jahrhunderts«, auf
den verschiedene Gelehrte mit Verwunderung aufmerksam machen, 2)
scheint mir hierher zu gehören: die Menschheit hat eben unter
Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, sie ist gewisser-
massen auf ihrem Wege um eine Ecke gebogen und verliert plötz-
lich selbst die letzte Vergangenheit aus den Augen; nunmehr gehört
sie der Zukunft an.
Höchst überraschend ist es festzustellen, dass gerade in diesem
Augenblick, wo die neue europäische Welt aus dem Chaos zu ent-
stehen begann, auch jene Entdeckung der übrigen Erde ihren Anfang
nahm, ohne welche unsere aufblühende germanische Kultur die einzig
ihr eigentümliche Expansionskraft niemals hätte entwickeln können:
in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts führte Marco Polo seine
Entdeckungsreisen aus und legte dadurch den Grund zu unserer
noch nicht ganz vollendeten Kenntnis der Oberfläche unseres Planeten.
Was hiemit gewonnen wird, ist zunächst, und abgesehen von der
Erweiterung des Gesichtskreises, die Fähigkeit der Ausdehnung; jedoch
diese bedeutet nur etwas Relatives; das Entscheidende ist, dass euro-
päische Kraft die gesamte Erde in absehbarer Zeit zu umspannen
hoffen darf und somit den alles dahinraffenden Einfällen ungeahnter
1) Die theologische Fakultät wurde erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts
errichtet (Savigny).
2) Siehe z. B. Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen (Akad. Vor-
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