und ungebändigter Barbarenkräfte nicht, wie frühere Civilisationen, unterworfen sein wird.
Soviel zur Begründung meiner Wahl des 13. Jahrhunderts als Grenzscheide.
Dass einer derartigen Wahl dennoch etwas Künstliches an- haftet, habe ich gleich anfangs eingestanden und wiederhole es jetzt; namentlich darf man nicht glauben, dass ich dem Jahre 1200 irgend eine besondere fatidistische Bedeutung zuerkenne: die Gährung der ersten zwölf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hat ja noch heute nicht aufgehört, sie trübt noch tausende und abertausende von Ge- hirnen, und andrerseits darf man getrost behaupten, dass die neue harmonische Welt in einzelnen Köpfen schon lange vor 1200 zu dämmern begann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines derartigen Schemas zeigt sich erst beim Gebrauche. Wie Goethe sagt: "Alles kommt auf das Grundwahre an, dessen Entwicklung sich nicht so leicht in der Spekulation als in der Praxis zeigt: denn diese ist der Prüf- stein des vom Geist Empfangenen."
Zweiteilung des ersten Bandes.
Infolge dieser Bestimmung des Angelpunktes unserer Geschichte zerfällt dieser die Zeit bis zum Jahre 1800 behandelnde Band natur- gemäss in zwei Teile: der eine behandelt die Zeit vor dem Jahre 1200, der andere die Zeit nach diesem Jahre.
In dem ersten Teil -- Die Ursprünge -- habe ich zuerst das Erbe der alten Welt, sodann die Erben, zuletzt den Kampf der Erben um das Erbe besprochen. Da jedes Neue an ein schon Vor- handenes, Älteres anknüpft, ist die erste der grundlegenden Fragen: welche Bestandteile unseres geistigen Kapitals sind ererbt? Die zweite, nicht minder wichtige Grundfrage lautet: wer sind "wir"? Führt uns auch die Beantwortung dieser Fragen in ferne Vergangenheit zurück, das Interesse bleibt stets ein "aktuelles" (wie man im heutigen Jargon sagt), da sowohl bei der Gesamtanlage jedes Kapitels wie auch bei jeder Einzelheit der Besprechung die eine einzige Rücksicht auf unser 19. Jahrhundert bestimmend bleibt. Das Erbe der alten Welt bildet noch immer einen bedeutenden -- oft recht unverdauten -- Bestandteil der allerneuesten Welt; die verschieden gearteten Erben stehen einander noch immer gegenüber wie vor tausend Jahren; der Kampf ist heute ebenso erbittert, dabei ebenso konfus wie je: diese Untersuchung der Vergangenheit bedeutet also zugleich eine Sichtung des überreichen Stoffes der Gegenwart. Nur darf Niemand in meinen Betrachtungen über hellenische Kunst und Philosophie, über
Allgemeine Einleitung.
und ungebändigter Barbarenkräfte nicht, wie frühere Civilisationen, unterworfen sein wird.
Soviel zur Begründung meiner Wahl des 13. Jahrhunderts als Grenzscheide.
Dass einer derartigen Wahl dennoch etwas Künstliches an- haftet, habe ich gleich anfangs eingestanden und wiederhole es jetzt; namentlich darf man nicht glauben, dass ich dem Jahre 1200 irgend eine besondere fatidistische Bedeutung zuerkenne: die Gährung der ersten zwölf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hat ja noch heute nicht aufgehört, sie trübt noch tausende und abertausende von Ge- hirnen, und andrerseits darf man getrost behaupten, dass die neue harmonische Welt in einzelnen Köpfen schon lange vor 1200 zu dämmern begann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines derartigen Schemas zeigt sich erst beim Gebrauche. Wie Goethe sagt: »Alles kommt auf das Grundwahre an, dessen Entwicklung sich nicht so leicht in der Spekulation als in der Praxis zeigt: denn diese ist der Prüf- stein des vom Geist Empfangenen.«
Zweiteilung des ersten Bandes.
Infolge dieser Bestimmung des Angelpunktes unserer Geschichte zerfällt dieser die Zeit bis zum Jahre 1800 behandelnde Band natur- gemäss in zwei Teile: der eine behandelt die Zeit vor dem Jahre 1200, der andere die Zeit nach diesem Jahre.
In dem ersten Teil — Die Ursprünge — habe ich zuerst das Erbe der alten Welt, sodann die Erben, zuletzt den Kampf der Erben um das Erbe besprochen. Da jedes Neue an ein schon Vor- handenes, Älteres anknüpft, ist die erste der grundlegenden Fragen: welche Bestandteile unseres geistigen Kapitals sind ererbt? Die zweite, nicht minder wichtige Grundfrage lautet: wer sind »wir«? Führt uns auch die Beantwortung dieser Fragen in ferne Vergangenheit zurück, das Interesse bleibt stets ein »aktuelles« (wie man im heutigen Jargon sagt), da sowohl bei der Gesamtanlage jedes Kapitels wie auch bei jeder Einzelheit der Besprechung die eine einzige Rücksicht auf unser 19. Jahrhundert bestimmend bleibt. Das Erbe der alten Welt bildet noch immer einen bedeutenden — oft recht unverdauten — Bestandteil der allerneuesten Welt; die verschieden gearteten Erben stehen einander noch immer gegenüber wie vor tausend Jahren; der Kampf ist heute ebenso erbittert, dabei ebenso konfus wie je: diese Untersuchung der Vergangenheit bedeutet also zugleich eine Sichtung des überreichen Stoffes der Gegenwart. Nur darf Niemand in meinen Betrachtungen über hellenische Kunst und Philosophie, über
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0039"n="16"/><fwplace="top"type="header">Allgemeine Einleitung.</fw><lb/>
und ungebändigter Barbarenkräfte nicht, wie frühere Civilisationen,<lb/>
unterworfen sein wird.</p><lb/><p>Soviel zur Begründung meiner Wahl des 13. Jahrhunderts als<lb/>
Grenzscheide.</p><lb/><p>Dass einer derartigen Wahl dennoch etwas Künstliches an-<lb/>
haftet, habe ich gleich anfangs eingestanden und wiederhole es jetzt;<lb/>
namentlich darf man nicht glauben, dass ich dem Jahre 1200 irgend<lb/>
eine besondere fatidistische Bedeutung zuerkenne: die Gährung der<lb/>
ersten zwölf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hat ja noch heute<lb/>
nicht aufgehört, sie trübt noch tausende und abertausende von Ge-<lb/>
hirnen, und andrerseits darf man getrost behaupten, dass die neue<lb/>
harmonische Welt in einzelnen Köpfen schon lange vor 1200 zu<lb/>
dämmern begann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines derartigen<lb/>
Schemas zeigt sich erst beim Gebrauche. Wie Goethe sagt: »Alles<lb/>
kommt auf das Grundwahre an, dessen Entwicklung sich nicht so leicht<lb/>
in der Spekulation als in der Praxis zeigt: denn diese ist der Prüf-<lb/>
stein des vom Geist Empfangenen.«</p><lb/><noteplace="left">Zweiteilung<lb/>
des<lb/>
ersten Bandes.</note><p>Infolge dieser Bestimmung des Angelpunktes unserer Geschichte<lb/>
zerfällt dieser die Zeit bis zum Jahre 1800 behandelnde Band natur-<lb/>
gemäss in zwei Teile: der eine behandelt die Zeit <hirendition="#g">vor</hi> dem Jahre 1200,<lb/>
der andere die Zeit nach diesem Jahre.</p><lb/><p>In dem ersten Teil —<hirendition="#g">Die Ursprünge</hi>— habe ich zuerst<lb/>
das Erbe der alten Welt, sodann die Erben, zuletzt den Kampf der<lb/>
Erben um das Erbe besprochen. Da jedes Neue an ein schon Vor-<lb/>
handenes, Älteres anknüpft, ist die erste der grundlegenden Fragen:<lb/>
welche Bestandteile unseres geistigen Kapitals sind ererbt? Die zweite,<lb/>
nicht minder wichtige Grundfrage lautet: wer sind »wir«? Führt<lb/>
uns auch die Beantwortung dieser Fragen in ferne Vergangenheit<lb/>
zurück, das Interesse bleibt stets ein »aktuelles« (wie man im heutigen<lb/>
Jargon sagt), da sowohl bei der Gesamtanlage jedes Kapitels wie auch<lb/>
bei jeder Einzelheit der Besprechung die eine einzige Rücksicht auf<lb/>
unser 19. Jahrhundert bestimmend bleibt. Das Erbe der alten Welt<lb/>
bildet noch immer einen bedeutenden — oft recht unverdauten —<lb/>
Bestandteil der allerneuesten Welt; die verschieden gearteten Erben<lb/>
stehen einander noch immer gegenüber wie vor tausend Jahren; der<lb/>
Kampf ist heute ebenso erbittert, dabei ebenso konfus wie je:<lb/>
diese Untersuchung der Vergangenheit bedeutet also zugleich eine<lb/>
Sichtung des überreichen Stoffes der Gegenwart. Nur darf Niemand<lb/>
in meinen Betrachtungen über hellenische Kunst und Philosophie, über<lb/></p></div></body></text></TEI>
[16/0039]
Allgemeine Einleitung.
und ungebändigter Barbarenkräfte nicht, wie frühere Civilisationen,
unterworfen sein wird.
Soviel zur Begründung meiner Wahl des 13. Jahrhunderts als
Grenzscheide.
Dass einer derartigen Wahl dennoch etwas Künstliches an-
haftet, habe ich gleich anfangs eingestanden und wiederhole es jetzt;
namentlich darf man nicht glauben, dass ich dem Jahre 1200 irgend
eine besondere fatidistische Bedeutung zuerkenne: die Gährung der
ersten zwölf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hat ja noch heute
nicht aufgehört, sie trübt noch tausende und abertausende von Ge-
hirnen, und andrerseits darf man getrost behaupten, dass die neue
harmonische Welt in einzelnen Köpfen schon lange vor 1200 zu
dämmern begann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines derartigen
Schemas zeigt sich erst beim Gebrauche. Wie Goethe sagt: »Alles
kommt auf das Grundwahre an, dessen Entwicklung sich nicht so leicht
in der Spekulation als in der Praxis zeigt: denn diese ist der Prüf-
stein des vom Geist Empfangenen.«
Infolge dieser Bestimmung des Angelpunktes unserer Geschichte
zerfällt dieser die Zeit bis zum Jahre 1800 behandelnde Band natur-
gemäss in zwei Teile: der eine behandelt die Zeit vor dem Jahre 1200,
der andere die Zeit nach diesem Jahre.
In dem ersten Teil — Die Ursprünge — habe ich zuerst
das Erbe der alten Welt, sodann die Erben, zuletzt den Kampf der
Erben um das Erbe besprochen. Da jedes Neue an ein schon Vor-
handenes, Älteres anknüpft, ist die erste der grundlegenden Fragen:
welche Bestandteile unseres geistigen Kapitals sind ererbt? Die zweite,
nicht minder wichtige Grundfrage lautet: wer sind »wir«? Führt
uns auch die Beantwortung dieser Fragen in ferne Vergangenheit
zurück, das Interesse bleibt stets ein »aktuelles« (wie man im heutigen
Jargon sagt), da sowohl bei der Gesamtanlage jedes Kapitels wie auch
bei jeder Einzelheit der Besprechung die eine einzige Rücksicht auf
unser 19. Jahrhundert bestimmend bleibt. Das Erbe der alten Welt
bildet noch immer einen bedeutenden — oft recht unverdauten —
Bestandteil der allerneuesten Welt; die verschieden gearteten Erben
stehen einander noch immer gegenüber wie vor tausend Jahren; der
Kampf ist heute ebenso erbittert, dabei ebenso konfus wie je:
diese Untersuchung der Vergangenheit bedeutet also zugleich eine
Sichtung des überreichen Stoffes der Gegenwart. Nur darf Niemand
in meinen Betrachtungen über hellenische Kunst und Philosophie, über
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/39>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.