römische Geschichte und römisches Recht, über die Lehre Christi, oder wiederum über Germanen und Juden u. s. w. selbständige akademische Abhandlungen erblicken und den entsprechenden Mass- stab an sie anlegen wollen. Nicht als Gelehrter bin ich an diese Gegenstände herangetreten, sondern als ein Kind der Gegenwart, das seine lebendige Gegenwart verstehen lernen will; und nicht aus dem Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen Objektivität habe ich meine Urteile gefasst, sondern von dem Standpunkt eines bewussten Germanen, den Goethe nicht umsonst gewarnt hat:
Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden; Was euch das Inn're stört, Dürft ihr nicht leiden!
Vor Gott mögen alle Menschen, ja, alle Wesen gleich sein: doch das göttliche Gesetz des Einzelnen ist, seine Eigenart zu wahren und zu wehren. Den Begriff des Germanentums habe ich so weit, und das heisst in diesem Falle so weitherzig wie nur möglich gefasst und keinem irgendwie gearteten Partikularismus das Wort geredet; dagegen bin ich überall dem Ungermanischen scharf zu Leibe gerückt, doch -- wie ich hoffe -- nirgends in unritterlicher Weise.
Eine Erläuterung erfordert vielleicht der Umstand, dass das Kapitel über den Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte so stark geworden ist. Für den Gegenstand dieses Bandes wäre eine so breite Behandlung nicht nötig gewesen; die hervorragende Stellung der Juden in unserem Jahrhundert aber, sowie die grosse Bedeutung der philo- und der antisemitischen Strömungen und Kontroverse für die Geschichte unserer Zeit erforderten unbedingt eine Beantwortung der Frage: wer ist der Jude? Ich fand nirgends eine klare, erschöpfende Be- antwortung dieser Frage; darum war ich gezwungen, sie selber zu suchen und zu geben. Der Kernpunkt ist hier die Frage nach der Religion; darum habe ich gerade diesen Punkt nicht allein hier im fünften, sondern auch im dritten und im siebenten Kapitel eingehend behandelt. Denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die übliche Behandlung der "Judenfrage" sich durchwegs an der Oberfläche bewegt: der Jude ist kein Feind germanischer Civilisation und Kultur; Herder mag wohl mit seiner Behauptung recht haben, der Jude sei uns ewig fremd, und folglich wir ihm ebenfalls, und Niemand wird leugnen, dass hieraus grosse Schädigung unseres Kulturwerkes stattfinden kann; doch glaube
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 2
Allgemeine Einleitung.
römische Geschichte und römisches Recht, über die Lehre Christi, oder wiederum über Germanen und Juden u. s. w. selbständige akademische Abhandlungen erblicken und den entsprechenden Mass- stab an sie anlegen wollen. Nicht als Gelehrter bin ich an diese Gegenstände herangetreten, sondern als ein Kind der Gegenwart, das seine lebendige Gegenwart verstehen lernen will; und nicht aus dem Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen Objektivität habe ich meine Urteile gefasst, sondern von dem Standpunkt eines bewussten Germanen, den Goethe nicht umsonst gewarnt hat:
Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden; Was euch das Inn’re stört, Dürft ihr nicht leiden!
Vor Gott mögen alle Menschen, ja, alle Wesen gleich sein: doch das göttliche Gesetz des Einzelnen ist, seine Eigenart zu wahren und zu wehren. Den Begriff des Germanentums habe ich so weit, und das heisst in diesem Falle so weitherzig wie nur möglich gefasst und keinem irgendwie gearteten Partikularismus das Wort geredet; dagegen bin ich überall dem Ungermanischen scharf zu Leibe gerückt, doch — wie ich hoffe — nirgends in unritterlicher Weise.
Eine Erläuterung erfordert vielleicht der Umstand, dass das Kapitel über den Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte so stark geworden ist. Für den Gegenstand dieses Bandes wäre eine so breite Behandlung nicht nötig gewesen; die hervorragende Stellung der Juden in unserem Jahrhundert aber, sowie die grosse Bedeutung der philo- und der antisemitischen Strömungen und Kontroverse für die Geschichte unserer Zeit erforderten unbedingt eine Beantwortung der Frage: wer ist der Jude? Ich fand nirgends eine klare, erschöpfende Be- antwortung dieser Frage; darum war ich gezwungen, sie selber zu suchen und zu geben. Der Kernpunkt ist hier die Frage nach der Religion; darum habe ich gerade diesen Punkt nicht allein hier im fünften, sondern auch im dritten und im siebenten Kapitel eingehend behandelt. Denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die übliche Behandlung der »Judenfrage« sich durchwegs an der Oberfläche bewegt: der Jude ist kein Feind germanischer Civilisation und Kultur; Herder mag wohl mit seiner Behauptung recht haben, der Jude sei uns ewig fremd, und folglich wir ihm ebenfalls, und Niemand wird leugnen, dass hieraus grosse Schädigung unseres Kulturwerkes stattfinden kann; doch glaube
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 2
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Allgemeine Einleitung.
römische Geschichte und römisches Recht, über die Lehre Christi,
oder wiederum über Germanen und Juden u. s. w. selbständige
akademische Abhandlungen erblicken und den entsprechenden Mass-
stab an sie anlegen wollen. Nicht als Gelehrter bin ich an diese
Gegenstände herangetreten, sondern als ein Kind der Gegenwart, das
seine lebendige Gegenwart verstehen lernen will; und nicht aus dem
Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen Objektivität habe ich
meine Urteile gefasst, sondern von dem Standpunkt eines bewussten
Germanen, den Goethe nicht umsonst gewarnt hat:
Was euch nicht angehört,
Müsset ihr meiden;
Was euch das Inn’re stört,
Dürft ihr nicht leiden!
Vor Gott mögen alle Menschen, ja, alle Wesen gleich sein: doch das
göttliche Gesetz des Einzelnen ist, seine Eigenart zu wahren und zu
wehren. Den Begriff des Germanentums habe ich so weit, und das
heisst in diesem Falle so weitherzig wie nur möglich gefasst und
keinem irgendwie gearteten Partikularismus das Wort geredet; dagegen
bin ich überall dem Ungermanischen scharf zu Leibe gerückt, doch
— wie ich hoffe — nirgends in unritterlicher Weise.
Eine Erläuterung erfordert vielleicht der Umstand, dass das
Kapitel über den Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte
so stark geworden ist. Für den Gegenstand dieses Bandes wäre eine
so breite Behandlung nicht nötig gewesen; die hervorragende Stellung
der Juden in unserem Jahrhundert aber, sowie die grosse Bedeutung
der philo- und der antisemitischen Strömungen und Kontroverse für
die Geschichte unserer Zeit erforderten unbedingt eine Beantwortung der
Frage: wer ist der Jude? Ich fand nirgends eine klare, erschöpfende Be-
antwortung dieser Frage; darum war ich gezwungen, sie selber zu suchen
und zu geben. Der Kernpunkt ist hier die Frage nach der Religion;
darum habe ich gerade diesen Punkt nicht allein hier im fünften, sondern
auch im dritten und im siebenten Kapitel eingehend behandelt. Denn
ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die übliche Behandlung der
»Judenfrage« sich durchwegs an der Oberfläche bewegt: der Jude ist
kein Feind germanischer Civilisation und Kultur; Herder mag wohl
mit seiner Behauptung recht haben, der Jude sei uns ewig fremd,
und folglich wir ihm ebenfalls, und Niemand wird leugnen, dass hieraus
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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