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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
ausdrücklich, dass nach der Auffassung der postexilischen Gesetzgeber:
"Sünde betrachtet wurde, nicht als eine Befleckung der individuellen
Seele, sondern als eine Befleckung der physischen Reinheit, eine Störung
jenes ungetrübt reinen Zustandes des Landes und seiner Einwohner,
welcher die Bedingung ausmacht, unter der allein Gott fortfahren kann,
unter seinem Volke und in seinem Heiligtum zu wohnen" (a. a. O.
S. 326). Ich bin, wie gesagt, überzeugt, der Schlüssel zu dieser merk-
würdigen, widerspruchsvollen Vorstellung liegt in der physischen Ent-
stehungsgeschichte dieser Rasse: ihr Dasein ist Sünde, ihr Dasein ist
ein Verbrechen gegen die heiligen Gesetze des Lebens; so wenigstens
wird sie vom Juden selber in den Augenblicken, wo das Schicksal
hart an seine Pforte klopft, empfunden. Nicht das Individuum, sondern
das ganze Volk müsste rein gewaschen werden, doch nicht von einem
bewusst, sondern von einem unbewusst begangenen Vergehen; und
das ist unmöglich: "wenn du dich gleich mit Lauge wüschest und
nähmest viel Seife dazu," wie Jeremia seinem Volke zuruft (II, 22).
Und um das Unwiderbringliche der Vergangenheit auszulöschen, um
es in die Gegenwart zu rücken, wo Einsicht und Willenskraft der
Sünde eine Grenze stecken, der Reinheit eine Stätte schaffen konnten,
musste die gesamte jüdische Geschichte von Anfang an gefälscht, die
Juden als ein von Gott unter allen Völkern auserwähltes Volk von
makellos reiner Rasse dargestellt und von nun an drakonische Gesetze
eingeführt werden gegen jegliche Blutmischung. Wer das vollbracht
hat, waren nicht Lügner, wie man wohl gemeint hat, sondern Männer,
die unter dem Druck jener Not handelten, welche allein uns über
uns selbst hinaushebt und zu unwissenden Werkzeugen grossartiger
Schicksalswendungen macht.1) Wenn irgend etwas geeignet ist, uns
aus der Blindheit unseres Jahrhunderts, uns von der Phrasenmacherei
unserer Autoritäten2) zu erretten, und unsere Augen dem Naturgesetz

Jemandem gegenüber, der die Macht besitzt, das Vergehen zu bestrafen"!
(a. a. O., S. 246).
1) Man hat Jeremia's Worte: "Es ist doch eitel Lügen, was die Schrift-
gelehrten setzen" (VIII, 8), auf die damals vor Kurzem geschehene Einführung
des Deuteronomium und die begonnene Um- und Ausarbeitung des sogenannten
mosaischen Gesetzes (von dessen Dasein keiner der Propheten etwas gewusst
hatte) gedeutet und zwar wahrscheinlich mit Recht (nach der Behauptung des
gläubigen Juden C. G. Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 201, 202).
2) Auch Herr von Luschan erblickt, wie man aus dem Schlusse seiner in
rein statistischer Beziehung so wertvollen Arbeit über die ethnographische Stellung
der Juden ersieht, das Heil in einem "völligen Ineinanderaufgehen und Ver-

Die Erben.
ausdrücklich, dass nach der Auffassung der postexilischen Gesetzgeber:
»Sünde betrachtet wurde, nicht als eine Befleckung der individuellen
Seele, sondern als eine Befleckung der physischen Reinheit, eine Störung
jenes ungetrübt reinen Zustandes des Landes und seiner Einwohner,
welcher die Bedingung ausmacht, unter der allein Gott fortfahren kann,
unter seinem Volke und in seinem Heiligtum zu wohnen« (a. a. O.
S. 326). Ich bin, wie gesagt, überzeugt, der Schlüssel zu dieser merk-
würdigen, widerspruchsvollen Vorstellung liegt in der physischen Ent-
stehungsgeschichte dieser Rasse: ihr Dasein ist Sünde, ihr Dasein ist
ein Verbrechen gegen die heiligen Gesetze des Lebens; so wenigstens
wird sie vom Juden selber in den Augenblicken, wo das Schicksal
hart an seine Pforte klopft, empfunden. Nicht das Individuum, sondern
das ganze Volk müsste rein gewaschen werden, doch nicht von einem
bewusst, sondern von einem unbewusst begangenen Vergehen; und
das ist unmöglich: »wenn du dich gleich mit Lauge wüschest und
nähmest viel Seife dazu,« wie Jeremia seinem Volke zuruft (II, 22).
Und um das Unwiderbringliche der Vergangenheit auszulöschen, um
es in die Gegenwart zu rücken, wo Einsicht und Willenskraft der
Sünde eine Grenze stecken, der Reinheit eine Stätte schaffen konnten,
musste die gesamte jüdische Geschichte von Anfang an gefälscht, die
Juden als ein von Gott unter allen Völkern auserwähltes Volk von
makellos reiner Rasse dargestellt und von nun an drakonische Gesetze
eingeführt werden gegen jegliche Blutmischung. Wer das vollbracht
hat, waren nicht Lügner, wie man wohl gemeint hat, sondern Männer,
die unter dem Druck jener Not handelten, welche allein uns über
uns selbst hinaushebt und zu unwissenden Werkzeugen grossartiger
Schicksalswendungen macht.1) Wenn irgend etwas geeignet ist, uns
aus der Blindheit unseres Jahrhunderts, uns von der Phrasenmacherei
unserer Autoritäten2) zu erretten, und unsere Augen dem Naturgesetz

Jemandem gegenüber, der die Macht besitzt, das Vergehen zu bestrafen«!
(a. a. O., S. 246).
1) Man hat Jeremia’s Worte: »Es ist doch eitel Lügen, was die Schrift-
gelehrten setzen« (VIII, 8), auf die damals vor Kurzem geschehene Einführung
des Deuteronomium und die begonnene Um- und Ausarbeitung des sogenannten
mosaischen Gesetzes (von dessen Dasein keiner der Propheten etwas gewusst
hatte) gedeutet und zwar wahrscheinlich mit Recht (nach der Behauptung des
gläubigen Juden C. G. Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 201, 202).
2) Auch Herr von Luschan erblickt, wie man aus dem Schlusse seiner in
rein statistischer Beziehung so wertvollen Arbeit über die ethnographische Stellung
der Juden ersieht, das Heil in einem »völligen Ineinanderaufgehen und Ver-
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[374/0397] Die Erben. ausdrücklich, dass nach der Auffassung der postexilischen Gesetzgeber: »Sünde betrachtet wurde, nicht als eine Befleckung der individuellen Seele, sondern als eine Befleckung der physischen Reinheit, eine Störung jenes ungetrübt reinen Zustandes des Landes und seiner Einwohner, welcher die Bedingung ausmacht, unter der allein Gott fortfahren kann, unter seinem Volke und in seinem Heiligtum zu wohnen« (a. a. O. S. 326). Ich bin, wie gesagt, überzeugt, der Schlüssel zu dieser merk- würdigen, widerspruchsvollen Vorstellung liegt in der physischen Ent- stehungsgeschichte dieser Rasse: ihr Dasein ist Sünde, ihr Dasein ist ein Verbrechen gegen die heiligen Gesetze des Lebens; so wenigstens wird sie vom Juden selber in den Augenblicken, wo das Schicksal hart an seine Pforte klopft, empfunden. Nicht das Individuum, sondern das ganze Volk müsste rein gewaschen werden, doch nicht von einem bewusst, sondern von einem unbewusst begangenen Vergehen; und das ist unmöglich: »wenn du dich gleich mit Lauge wüschest und nähmest viel Seife dazu,« wie Jeremia seinem Volke zuruft (II, 22). Und um das Unwiderbringliche der Vergangenheit auszulöschen, um es in die Gegenwart zu rücken, wo Einsicht und Willenskraft der Sünde eine Grenze stecken, der Reinheit eine Stätte schaffen konnten, musste die gesamte jüdische Geschichte von Anfang an gefälscht, die Juden als ein von Gott unter allen Völkern auserwähltes Volk von makellos reiner Rasse dargestellt und von nun an drakonische Gesetze eingeführt werden gegen jegliche Blutmischung. Wer das vollbracht hat, waren nicht Lügner, wie man wohl gemeint hat, sondern Männer, die unter dem Druck jener Not handelten, welche allein uns über uns selbst hinaushebt und zu unwissenden Werkzeugen grossartiger Schicksalswendungen macht. 1) Wenn irgend etwas geeignet ist, uns aus der Blindheit unseres Jahrhunderts, uns von der Phrasenmacherei unserer Autoritäten 2) zu erretten, und unsere Augen dem Naturgesetz 5) 1) Man hat Jeremia’s Worte: »Es ist doch eitel Lügen, was die Schrift- gelehrten setzen« (VIII, 8), auf die damals vor Kurzem geschehene Einführung des Deuteronomium und die begonnene Um- und Ausarbeitung des sogenannten mosaischen Gesetzes (von dessen Dasein keiner der Propheten etwas gewusst hatte) gedeutet und zwar wahrscheinlich mit Recht (nach der Behauptung des gläubigen Juden C. G. Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 201, 202). 2) Auch Herr von Luschan erblickt, wie man aus dem Schlusse seiner in rein statistischer Beziehung so wertvollen Arbeit über die ethnographische Stellung der Juden ersieht, das Heil in einem »völligen Ineinanderaufgehen und Ver- 5) Jemandem gegenüber, der die Macht besitzt, das Vergehen zu bestrafen«! (a. a. O., S. 246).

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/397>, abgerufen am 24.11.2024.