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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Blut in kaltes Metall verwandelt und daraus für die Seele einen Schraub-
stock geschmiedet, eine Art eiserne Jungfrau wie die zu Nürnberg,
sie hatten die Lebensader der unwillkürlichen Empfindung, oder wie
Ambrosius sagt, des "Gefühles" unterbunden, die Lebensader der instink-
tiven schöpferischen Thätigkeit eines Volkes, durch welche sein Glaube,
seine Sitten, seine Gedanken sich den wechselnden Zeiten anpassen
und durch neue Gestaltungen das ewig Wahre des Alten zu neuge-
gebenem Leben erwecken; ihr Werk wäre jedoch ohne Bestand ge-
wesen, wenn sie auf halbem Wege stehen geblieben und sich mit
diesem Negativen begnügt hätten. Schneidet man bei physiologischen
Experimenten die Verbindung zwischen Herz und Hirn ab, so muss
man für künstliche Atmung sorgen, sonst hören die Lebensfunktionen
auf; das thaten die priesterlichen Religionsgründer durch die Ein-
führung des Messianischen Zukunftsreiches.

Ich habe schon mehrmals ausgeführt1) und will nicht wieder
darauf zurückkommen, dass eine materialistische Weltanschauung eine
geschichtliche Auffassung bedingt, und ausserdem, dass Geschichte,
wo sie als Grundlage einer Religion dient, notwendigerweise ausser
Vergangenheit und Gegenwart auch die Zukunft umfassen muss.
Ohne Zweifel waren also Zukunftsgedanken ein uralter Bestandteil des
hebräischen Erbes. Doch wie bescheiden, wie natürlich, wie ganz
innerhalb der Grenzen des Möglichen und Thatsächlichen! Nur Kanaan
schenkte Jahve den Israeliten, war er doch selber nur von Kanaan
der Gott; abgesehen von vielen unvermeidlichen Fehden lebte der
Stamm Juda, genau so wie die andern Stämme, bis zum Exil in bestem
Einvernehmen mit seinen Nachbarn; man wandert ein und aus (siehe
das Buch Ruth), man nimmt als etwas selbstverständliches den Gott
des Landes an, in dem man sich niederlässt (Ruth I, 15, 16); der
nationale Hochmut ist kaum grösser als der deutsche oder französische
heutzutage. Freilich hatte bei den Propheten, im Einklang mit ihren
übrigen Ideen, namentlich auch mit Rücksicht auf die äusserst ge-
fährliche politische Lage (denn Propheten standen nur bei Gelegenheit
politischer Krisen auf, niemals in Friedenszeiten)2) die Zukunft mehr
Farbe erhalten; als Folie zu den sittlichen Ermahnungen und ange-
drohten Strafen, die fast den gesamten Inhalt ihrer Kundgebungen

führt beim Semiten zur Zauberei. Immer und überall die Vorherrschaft des
blinden Willens!
1) Siehe S. 234 fg., 246 Anm., 397, 409 fg., 415 etc.
2) Wellhausen: (nach Montefiore p. 154).

Die Erben.
Blut in kaltes Metall verwandelt und daraus für die Seele einen Schraub-
stock geschmiedet, eine Art eiserne Jungfrau wie die zu Nürnberg,
sie hatten die Lebensader der unwillkürlichen Empfindung, oder wie
Ambrosius sagt, des »Gefühles« unterbunden, die Lebensader der instink-
tiven schöpferischen Thätigkeit eines Volkes, durch welche sein Glaube,
seine Sitten, seine Gedanken sich den wechselnden Zeiten anpassen
und durch neue Gestaltungen das ewig Wahre des Alten zu neuge-
gebenem Leben erwecken; ihr Werk wäre jedoch ohne Bestand ge-
wesen, wenn sie auf halbem Wege stehen geblieben und sich mit
diesem Negativen begnügt hätten. Schneidet man bei physiologischen
Experimenten die Verbindung zwischen Herz und Hirn ab, so muss
man für künstliche Atmung sorgen, sonst hören die Lebensfunktionen
auf; das thaten die priesterlichen Religionsgründer durch die Ein-
führung des Messianischen Zukunftsreiches.

Ich habe schon mehrmals ausgeführt1) und will nicht wieder
darauf zurückkommen, dass eine materialistische Weltanschauung eine
geschichtliche Auffassung bedingt, und ausserdem, dass Geschichte,
wo sie als Grundlage einer Religion dient, notwendigerweise ausser
Vergangenheit und Gegenwart auch die Zukunft umfassen muss.
Ohne Zweifel waren also Zukunftsgedanken ein uralter Bestandteil des
hebräischen Erbes. Doch wie bescheiden, wie natürlich, wie ganz
innerhalb der Grenzen des Möglichen und Thatsächlichen! Nur Kanaan
schenkte Jahve den Israeliten, war er doch selber nur von Kanaan
der Gott; abgesehen von vielen unvermeidlichen Fehden lebte der
Stamm Juda, genau so wie die andern Stämme, bis zum Exil in bestem
Einvernehmen mit seinen Nachbarn; man wandert ein und aus (siehe
das Buch Ruth), man nimmt als etwas selbstverständliches den Gott
des Landes an, in dem man sich niederlässt (Ruth I, 15, 16); der
nationale Hochmut ist kaum grösser als der deutsche oder französische
heutzutage. Freilich hatte bei den Propheten, im Einklang mit ihren
übrigen Ideen, namentlich auch mit Rücksicht auf die äusserst ge-
fährliche politische Lage (denn Propheten standen nur bei Gelegenheit
politischer Krisen auf, niemals in Friedenszeiten)2) die Zukunft mehr
Farbe erhalten; als Folie zu den sittlichen Ermahnungen und ange-
drohten Strafen, die fast den gesamten Inhalt ihrer Kundgebungen

führt beim Semiten zur Zauberei. Immer und überall die Vorherrschaft des
blinden Willens!
1) Siehe S. 234 fg., 246 Anm., 397, 409 fg., 415 etc.
2) Wellhausen: (nach Montefiore p. 154).
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[446/0469] Die Erben. Blut in kaltes Metall verwandelt und daraus für die Seele einen Schraub- stock geschmiedet, eine Art eiserne Jungfrau wie die zu Nürnberg, sie hatten die Lebensader der unwillkürlichen Empfindung, oder wie Ambrosius sagt, des »Gefühles« unterbunden, die Lebensader der instink- tiven schöpferischen Thätigkeit eines Volkes, durch welche sein Glaube, seine Sitten, seine Gedanken sich den wechselnden Zeiten anpassen und durch neue Gestaltungen das ewig Wahre des Alten zu neuge- gebenem Leben erwecken; ihr Werk wäre jedoch ohne Bestand ge- wesen, wenn sie auf halbem Wege stehen geblieben und sich mit diesem Negativen begnügt hätten. Schneidet man bei physiologischen Experimenten die Verbindung zwischen Herz und Hirn ab, so muss man für künstliche Atmung sorgen, sonst hören die Lebensfunktionen auf; das thaten die priesterlichen Religionsgründer durch die Ein- führung des Messianischen Zukunftsreiches. Ich habe schon mehrmals ausgeführt 1) und will nicht wieder darauf zurückkommen, dass eine materialistische Weltanschauung eine geschichtliche Auffassung bedingt, und ausserdem, dass Geschichte, wo sie als Grundlage einer Religion dient, notwendigerweise ausser Vergangenheit und Gegenwart auch die Zukunft umfassen muss. Ohne Zweifel waren also Zukunftsgedanken ein uralter Bestandteil des hebräischen Erbes. Doch wie bescheiden, wie natürlich, wie ganz innerhalb der Grenzen des Möglichen und Thatsächlichen! Nur Kanaan schenkte Jahve den Israeliten, war er doch selber nur von Kanaan der Gott; abgesehen von vielen unvermeidlichen Fehden lebte der Stamm Juda, genau so wie die andern Stämme, bis zum Exil in bestem Einvernehmen mit seinen Nachbarn; man wandert ein und aus (siehe das Buch Ruth), man nimmt als etwas selbstverständliches den Gott des Landes an, in dem man sich niederlässt (Ruth I, 15, 16); der nationale Hochmut ist kaum grösser als der deutsche oder französische heutzutage. Freilich hatte bei den Propheten, im Einklang mit ihren übrigen Ideen, namentlich auch mit Rücksicht auf die äusserst ge- fährliche politische Lage (denn Propheten standen nur bei Gelegenheit politischer Krisen auf, niemals in Friedenszeiten) 2) die Zukunft mehr Farbe erhalten; als Folie zu den sittlichen Ermahnungen und ange- drohten Strafen, die fast den gesamten Inhalt ihrer Kundgebungen 2) 1) Siehe S. 234 fg., 246 Anm., 397, 409 fg., 415 etc. 2) Wellhausen: (nach Montefiore p. 154). 2) führt beim Semiten zur Zauberei. Immer und überall die Vorherrschaft des blinden Willens!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/469>, abgerufen am 22.11.2024.