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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
bilden, brauchten sie ein glänzendes Bild der Segnungen, die einem
frommen, gottesfürchtigen Volk zu Teil werden würden, doch ist von
Universalherrschaft und dergleichen in den echten Schriften der vor-
exilischen Propheten niemals die Rede. Selbst Jesaia versteigt sich
nicht weiter als bis zu dem Gedanken, dass Jerusalem uneinnehmbar
sei und dass Strafe seine Feinde treffen werde; dann, in der "sicheren
Wohnung" wird "Heil, Weisheit, Klugheit, Furcht des Herrn der
Einwohner Schatz sein", und als ein besonderer Segen schwebt dem
grossen Mann noch vor, dass man zu jener Zeit "keine Schriftgelehrten
sehen wird"!1) Ich kann mich auf die grösste lebende Autorität be-
rufen, um apodiktisch zu behaupten, die Vorstellung einer besonderen
Heiligkeit des jüdischen Volkes -- diejenige Vorstellung, welche
der Religion des Judentums zu Grunde liegt -- sei dem Jesaia gänzlich
unbekannt.2) Alle jene Stellen, wie z. B. Kap. IV, 3: "wer wird
übrig sein zu Sion, der wird heilig heissen", Kap. LXII, 12: "man
wird sie nennen das heilige Volk", u. s. w. sind nachgewiesenermassen
spätere Interpolationen, d. h. das Werk der vorhin genannten grossen
Synagoge; die Sprache eines viel späteren, das Hebräische nicht mehr
frei beherrschenden Jahrhunderts hat die frommen Fälscher verraten.
Ebenso gefälscht sind auch fast alle jene "trostreichen Anhänge", die
man nach den meisten Drohungen bei Amos, Hosea, Micha, Jesaia,
etc. findet;3) und ganz und gar gefälscht, vom ersten bis zum letzten
Wort, sind solche Kapitel, wie Jesaia LX, jene berühmte messianische
Prophezeiung, nach welcher alle Könige der Welt vor den Juden im
Staube liegen, und die Thore Jerusalems Tag und Nacht offen bleiben
werden, damit die Schätze4) aller Völker hineingetragen werden. Der
echte Jesaia hatte seinem Volke als Lohn "Weisheit und Klugheit"
versprochen, der noch grössere Deuterojesaia (derjenige, der weder Opfer
noch Tempel wollte) hatte sich als Herrlichstes gedacht, dass Juda
"der Knecht Gottes" werden solle, berufen, allüberall den Müden, den
Blinden, den Armen, den Schwerbedrückten Trost zu bringen; doch
das war jetzt anders geworden: der Fluch Gottes soll fortan den-
jenigen treffen, welcher behauptet "das Haus Juda ist ein Volk wie
alle anderen Völker" (Ezekiel XXV, 8), denn es soll "ein Königreich

1) Siehe z. B. das Kap. XXXIII.
2) Cheyne; Introduction to Isaiah (ed. 1895) p. 27 und 53.
3) Cheyne: in seiner Einleitung zu Robertson Smith: Prophets of Israel,
p. XV fg.
4) Luther hat irrtümlicher Weise "Macht".

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
bilden, brauchten sie ein glänzendes Bild der Segnungen, die einem
frommen, gottesfürchtigen Volk zu Teil werden würden, doch ist von
Universalherrschaft und dergleichen in den echten Schriften der vor-
exilischen Propheten niemals die Rede. Selbst Jesaia versteigt sich
nicht weiter als bis zu dem Gedanken, dass Jerusalem uneinnehmbar
sei und dass Strafe seine Feinde treffen werde; dann, in der »sicheren
Wohnung« wird »Heil, Weisheit, Klugheit, Furcht des Herrn der
Einwohner Schatz sein«, und als ein besonderer Segen schwebt dem
grossen Mann noch vor, dass man zu jener Zeit »keine Schriftgelehrten
sehen wird«!1) Ich kann mich auf die grösste lebende Autorität be-
rufen, um apodiktisch zu behaupten, die Vorstellung einer besonderen
Heiligkeit des jüdischen Volkes — diejenige Vorstellung, welche
der Religion des Judentums zu Grunde liegt — sei dem Jesaia gänzlich
unbekannt.2) Alle jene Stellen, wie z. B. Kap. IV, 3: »wer wird
übrig sein zu Sion, der wird heilig heissen«, Kap. LXII, 12: »man
wird sie nennen das heilige Volk«, u. s. w. sind nachgewiesenermassen
spätere Interpolationen, d. h. das Werk der vorhin genannten grossen
Synagoge; die Sprache eines viel späteren, das Hebräische nicht mehr
frei beherrschenden Jahrhunderts hat die frommen Fälscher verraten.
Ebenso gefälscht sind auch fast alle jene »trostreichen Anhänge«, die
man nach den meisten Drohungen bei Amos, Hosea, Micha, Jesaia,
etc. findet;3) und ganz und gar gefälscht, vom ersten bis zum letzten
Wort, sind solche Kapitel, wie Jesaia LX, jene berühmte messianische
Prophezeiung, nach welcher alle Könige der Welt vor den Juden im
Staube liegen, und die Thore Jerusalems Tag und Nacht offen bleiben
werden, damit die Schätze4) aller Völker hineingetragen werden. Der
echte Jesaia hatte seinem Volke als Lohn »Weisheit und Klugheit«
versprochen, der noch grössere Deuterojesaia (derjenige, der weder Opfer
noch Tempel wollte) hatte sich als Herrlichstes gedacht, dass Juda
»der Knecht Gottes« werden solle, berufen, allüberall den Müden, den
Blinden, den Armen, den Schwerbedrückten Trost zu bringen; doch
das war jetzt anders geworden: der Fluch Gottes soll fortan den-
jenigen treffen, welcher behauptet »das Haus Juda ist ein Volk wie
alle anderen Völker« (Ezekiel XXV, 8), denn es soll »ein Königreich

1) Siehe z. B. das Kap. XXXIII.
2) Cheyne; Introduction to Isaiah (ed. 1895) p. 27 und 53.
3) Cheyne: in seiner Einleitung zu Robertson Smith: Prophets of Israel,
p. XV fg.
4) Luther hat irrtümlicher Weise »Macht«.
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[447/0470] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. bilden, brauchten sie ein glänzendes Bild der Segnungen, die einem frommen, gottesfürchtigen Volk zu Teil werden würden, doch ist von Universalherrschaft und dergleichen in den echten Schriften der vor- exilischen Propheten niemals die Rede. Selbst Jesaia versteigt sich nicht weiter als bis zu dem Gedanken, dass Jerusalem uneinnehmbar sei und dass Strafe seine Feinde treffen werde; dann, in der »sicheren Wohnung« wird »Heil, Weisheit, Klugheit, Furcht des Herrn der Einwohner Schatz sein«, und als ein besonderer Segen schwebt dem grossen Mann noch vor, dass man zu jener Zeit »keine Schriftgelehrten sehen wird«! 1) Ich kann mich auf die grösste lebende Autorität be- rufen, um apodiktisch zu behaupten, die Vorstellung einer besonderen Heiligkeit des jüdischen Volkes — diejenige Vorstellung, welche der Religion des Judentums zu Grunde liegt — sei dem Jesaia gänzlich unbekannt. 2) Alle jene Stellen, wie z. B. Kap. IV, 3: »wer wird übrig sein zu Sion, der wird heilig heissen«, Kap. LXII, 12: »man wird sie nennen das heilige Volk«, u. s. w. sind nachgewiesenermassen spätere Interpolationen, d. h. das Werk der vorhin genannten grossen Synagoge; die Sprache eines viel späteren, das Hebräische nicht mehr frei beherrschenden Jahrhunderts hat die frommen Fälscher verraten. Ebenso gefälscht sind auch fast alle jene »trostreichen Anhänge«, die man nach den meisten Drohungen bei Amos, Hosea, Micha, Jesaia, etc. findet; 3) und ganz und gar gefälscht, vom ersten bis zum letzten Wort, sind solche Kapitel, wie Jesaia LX, jene berühmte messianische Prophezeiung, nach welcher alle Könige der Welt vor den Juden im Staube liegen, und die Thore Jerusalems Tag und Nacht offen bleiben werden, damit die Schätze 4) aller Völker hineingetragen werden. Der echte Jesaia hatte seinem Volke als Lohn »Weisheit und Klugheit« versprochen, der noch grössere Deuterojesaia (derjenige, der weder Opfer noch Tempel wollte) hatte sich als Herrlichstes gedacht, dass Juda »der Knecht Gottes« werden solle, berufen, allüberall den Müden, den Blinden, den Armen, den Schwerbedrückten Trost zu bringen; doch das war jetzt anders geworden: der Fluch Gottes soll fortan den- jenigen treffen, welcher behauptet »das Haus Juda ist ein Volk wie alle anderen Völker« (Ezekiel XXV, 8), denn es soll »ein Königreich 1) Siehe z. B. das Kap. XXXIII. 2) Cheyne; Introduction to Isaiah (ed. 1895) p. 27 und 53. 3) Cheyne: in seiner Einleitung zu Robertson Smith: Prophets of Israel, p. XV fg. 4) Luther hat irrtümlicher Weise »Macht«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/470>, abgerufen am 22.11.2024.