Natürlich wirkten die historischen Kreuzungen am schnellsten (Italien, Spanien, Südfrankreich u. s. w. sind allbekannte Beispiele); doch neben diesen Vermengungen, und an solchen Orten, wo sie gar nicht stattfanden, ganz allein, wirkte eine andere Ursache, so glaubt man heute: nämlich, das Vorhandensein einer oder vielleicht auch mehrerer prähistorischer Rassen, die niemals (oder doch nur dunkel) als solche in der Geschichte auftraten, und die, auf einer tieferen Kulturstufe stehend, frühzeitig von den verschiedenen Zweigen der Indogermanen unterjocht und assimiliert wurden. Diese Ursache trägt wahrscheinlich noch heute nachhaltig zur Entgermanisierung bei. Bezüglich der Iberer z. B. hat schon Wilhelm von Humboldt die Vermutung aufgestellt, sie seien früher durch Europa weit verbreitet gewesen und diese Annahme ist neuer- dings von Hommel und Anderen vertreten worden. Rettete sich auch ein kleiner Teil in den fernsten Westen, dorthin, wo wir heute noch die Basken finden, starb auch vielleicht die Mehrzahl der Männer unter dem Feindesschwert, gänzliche Vernichtung des ganz Armen und Macht- losen kommt erfahrungsgemäss nie vor, man behält ihn als Sklaven, und man behält die Weiber. In den Alpen hat nun dieselbe oder vielleicht eine andere, aber ebenfalls ungermanische, nicht indoeuropäische Rasse gehaust, oder sich wenigstens dorthin als auf die letzte Zufluchtsstätte gerettet; man wird zu dieser Annahme durch die Beobachtung gedrängt, dass gerade die Alpen heute den Hauptausstrahlungspunkt des un- germanischen, kurzköpfigen, brünetten Typus abgeben, sowohl nach Norden wie nach Süden; die jetzt noch anthropologisch unterschiedene Rasse der Rhätier ist vielleicht ein ziemlich echtes Überbleibsel dieser einstigen Pfahlbauer und mit Virchow's Präkelten vermutlich identisch. In den weiten Gebieten des östlichen Europa muss dann noch eine besondere, wahrscheinlich mongoloidartige Rasse vorausgesetzt werden, um die ganz spezifische Deformation zu erklären, welche so schnell aus den meisten Slavogermanen minderwertige "Slaven" machte. Wie kämen wir nun dazu, diejenigen Europäer, welche von diesen durch- aus ungermanischen Völkern abstammen, bloss weil sie eine indo- europäische Sprache sprechen und in indoeuropäische Kultur sich hineingelebt haben, als "Germanen" zu betrachten? Ich halte es im Gegenteil für eine wichtigste Pflicht, will man vergangene und gegen- wärtige Geschichte verstehen, hier recht klar zu scheiden. Indem wir die Menschen scheiden, lernen wir auch die Ideen in ihrer Be- sonderheit erkennen. Das ist umso nötiger, als wir unter uns Halb- germanen, Viertelgermanen, Sechzehntelgermanen u. s. w. zählen, und
Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Natürlich wirkten die historischen Kreuzungen am schnellsten (Italien, Spanien, Südfrankreich u. s. w. sind allbekannte Beispiele); doch neben diesen Vermengungen, und an solchen Orten, wo sie gar nicht stattfanden, ganz allein, wirkte eine andere Ursache, so glaubt man heute: nämlich, das Vorhandensein einer oder vielleicht auch mehrerer prähistorischer Rassen, die niemals (oder doch nur dunkel) als solche in der Geschichte auftraten, und die, auf einer tieferen Kulturstufe stehend, frühzeitig von den verschiedenen Zweigen der Indogermanen unterjocht und assimiliert wurden. Diese Ursache trägt wahrscheinlich noch heute nachhaltig zur Entgermanisierung bei. Bezüglich der Iberer z. B. hat schon Wilhelm von Humboldt die Vermutung aufgestellt, sie seien früher durch Europa weit verbreitet gewesen und diese Annahme ist neuer- dings von Hommel und Anderen vertreten worden. Rettete sich auch ein kleiner Teil in den fernsten Westen, dorthin, wo wir heute noch die Basken finden, starb auch vielleicht die Mehrzahl der Männer unter dem Feindesschwert, gänzliche Vernichtung des ganz Armen und Macht- losen kommt erfahrungsgemäss nie vor, man behält ihn als Sklaven, und man behält die Weiber. In den Alpen hat nun dieselbe oder vielleicht eine andere, aber ebenfalls ungermanische, nicht indoeuropäische Rasse gehaust, oder sich wenigstens dorthin als auf die letzte Zufluchtsstätte gerettet; man wird zu dieser Annahme durch die Beobachtung gedrängt, dass gerade die Alpen heute den Hauptausstrahlungspunkt des un- germanischen, kurzköpfigen, brünetten Typus abgeben, sowohl nach Norden wie nach Süden; die jetzt noch anthropologisch unterschiedene Rasse der Rhätier ist vielleicht ein ziemlich echtes Überbleibsel dieser einstigen Pfahlbauer und mit Virchow’s Präkelten vermutlich identisch. In den weiten Gebieten des östlichen Europa muss dann noch eine besondere, wahrscheinlich mongoloidartige Rasse vorausgesetzt werden, um die ganz spezifische Deformation zu erklären, welche so schnell aus den meisten Slavogermanen minderwertige »Slaven« machte. Wie kämen wir nun dazu, diejenigen Europäer, welche von diesen durch- aus ungermanischen Völkern abstammen, bloss weil sie eine indo- europäische Sprache sprechen und in indoeuropäische Kultur sich hineingelebt haben, als »Germanen« zu betrachten? Ich halte es im Gegenteil für eine wichtigste Pflicht, will man vergangene und gegen- wärtige Geschichte verstehen, hier recht klar zu scheiden. Indem wir die Menschen scheiden, lernen wir auch die Ideen in ihrer Be- sonderheit erkennen. Das ist umso nötiger, als wir unter uns Halb- germanen, Viertelgermanen, Sechzehntelgermanen u. s. w. zählen, und
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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Natürlich wirkten die historischen Kreuzungen am schnellsten
(Italien, Spanien, Südfrankreich u. s. w. sind allbekannte Beispiele); doch
neben diesen Vermengungen, und an solchen Orten, wo sie gar nicht
stattfanden, ganz allein, wirkte eine andere Ursache, so glaubt man
heute: nämlich, das Vorhandensein einer oder vielleicht auch mehrerer
prähistorischer Rassen, die niemals (oder doch nur dunkel) als solche in
der Geschichte auftraten, und die, auf einer tieferen Kulturstufe stehend,
frühzeitig von den verschiedenen Zweigen der Indogermanen unterjocht
und assimiliert wurden. Diese Ursache trägt wahrscheinlich noch heute
nachhaltig zur Entgermanisierung bei. Bezüglich der Iberer z. B. hat
schon Wilhelm von Humboldt die Vermutung aufgestellt, sie seien früher
durch Europa weit verbreitet gewesen und diese Annahme ist neuer-
dings von Hommel und Anderen vertreten worden. Rettete sich auch
ein kleiner Teil in den fernsten Westen, dorthin, wo wir heute noch
die Basken finden, starb auch vielleicht die Mehrzahl der Männer unter
dem Feindesschwert, gänzliche Vernichtung des ganz Armen und Macht-
losen kommt erfahrungsgemäss nie vor, man behält ihn als Sklaven, und
man behält die Weiber. In den Alpen hat nun dieselbe oder vielleicht
eine andere, aber ebenfalls ungermanische, nicht indoeuropäische Rasse
gehaust, oder sich wenigstens dorthin als auf die letzte Zufluchtsstätte
gerettet; man wird zu dieser Annahme durch die Beobachtung gedrängt,
dass gerade die Alpen heute den Hauptausstrahlungspunkt des un-
germanischen, kurzköpfigen, brünetten Typus abgeben, sowohl nach
Norden wie nach Süden; die jetzt noch anthropologisch unterschiedene
Rasse der Rhätier ist vielleicht ein ziemlich echtes Überbleibsel dieser
einstigen Pfahlbauer und mit Virchow’s Präkelten vermutlich identisch.
In den weiten Gebieten des östlichen Europa muss dann noch eine
besondere, wahrscheinlich mongoloidartige Rasse vorausgesetzt werden,
um die ganz spezifische Deformation zu erklären, welche so schnell
aus den meisten Slavogermanen minderwertige »Slaven« machte. Wie
kämen wir nun dazu, diejenigen Europäer, welche von diesen durch-
aus ungermanischen Völkern abstammen, bloss weil sie eine indo-
europäische Sprache sprechen und in indoeuropäische Kultur sich
hineingelebt haben, als »Germanen« zu betrachten? Ich halte es im
Gegenteil für eine wichtigste Pflicht, will man vergangene und gegen-
wärtige Geschichte verstehen, hier recht klar zu scheiden. Indem
wir die Menschen scheiden, lernen wir auch die Ideen in ihrer Be-
sonderheit erkennen. Das ist umso nötiger, als wir unter uns Halb-
germanen, Viertelgermanen, Sechzehntelgermanen u. s. w. zählen, und
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/514>, abgerufen am 24.11.2024.
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