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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
weiter; dann kamen aber geniale Männer von dem Schlage eines Ray,
eines Jussieu, eines De Candolle, welche durch Beobachtung, gepaart
mit schöpferischer Intuition, die Hauptfamilien der Pflanzen fest-
stellten und dann erst die Charaktere entdeckten -- meistens sehr
verborgene -- welche es gestatten, die Verwandtschaft auch anatomisch
darzuthun. Ähnlich bei der Tierwelt. Jedes andere Verfahren ist
durchaus künstlich und folglich blosse Spielerei. Darum dürfen wir
auch beim Menschen nicht, wie Kollmann es thut, nach anatomischem
Gutdünken ein System aufbauen, in welches sich die Thatsachen
dann zu fügen haben, so gut und so schlecht es geht, sondern wir
müssen zuerst feststellen, welche Gruppen als individualisierte, moralisch
und intellektuell gekennzeichnete Rassen thatsächlich existieren, und
sodann nachsehen, ob es anatomische Charaktere giebt, die zur Klassi-
fikation verwertbar sind.

Ein solcher Exkurs in das Gebiet der anatomischen WissenschaftRationelle
Anthropologie.

hat nun zunächst das eine Gute, dass wir einsehen lernen, wie wenig
sichere Hilfe, wie wenig nützliche, für das praktische Leben verwert-
bare Belehrung wir von dorther zu erhoffen haben. Entweder wandeln
wir auf sandigem, schwebendem Boden, oder auf morastigem, wo
wir gleich bei den ersten Schritten einsinken und festkleben, oder
aber wir müssen auf den nadelscharfen Spitzen der Dogmatik von
einem Gipfel zum anderen springen und fallen heute oder morgen
in den Abgrund hinunter. Dieser Exkurs hat aber doch noch andere,
positivere Vorteile: er bereichert unser Wissensmaterial und lehrt uns
schärfer sehen. Dass die Rassen ebenso wenig wie die Individuen
gleich begabt sind, das bezeugen Geschichte und tägliche Erfahrung;
die Anthropologie lehrt uns nun ausserdem (und trotz Professor Koll-
mann), dass bei Rassen, welche bestimmte Thaten vollbrachten, eine
bestimmte physische Gestaltung die vorherrschende war. Der Fehler
ist der, dass man mit zufälligen Zahlen der Vergleichsobjekte operiert
und nach willkürlich gewählten Verhältnissen misst. So wird z. B. fest-
gesetzt, sobald die Breite eines Schädels zur Länge 75 zu 100 (oder
weniger) betrage, sei dieser Schädel "dolichocephal", mit 76 oder schon
mit 751/4 ist er "mesocephal", und von 80 ab "brachycephal". Wer
sagt das denn? warum soll gerade in der Zahl 75 eine besondere Magie
liegen? eine andere Magie als die meiner Faulheit und Bequemlichkeit?
Dass wir ohne termini technici und ohne Grenzen in der täglichen
Praxis nicht auskommen können, begreife ich recht wohl, was ich aber
nicht begreife, ist, dass ich sie für etwas anderes als willkürliche Grenzen

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
weiter; dann kamen aber geniale Männer von dem Schlage eines Ray,
eines Jussieu, eines De Candolle, welche durch Beobachtung, gepaart
mit schöpferischer Intuition, die Hauptfamilien der Pflanzen fest-
stellten und dann erst die Charaktere entdeckten — meistens sehr
verborgene — welche es gestatten, die Verwandtschaft auch anatomisch
darzuthun. Ähnlich bei der Tierwelt. Jedes andere Verfahren ist
durchaus künstlich und folglich blosse Spielerei. Darum dürfen wir
auch beim Menschen nicht, wie Kollmann es thut, nach anatomischem
Gutdünken ein System aufbauen, in welches sich die Thatsachen
dann zu fügen haben, so gut und so schlecht es geht, sondern wir
müssen zuerst feststellen, welche Gruppen als individualisierte, moralisch
und intellektuell gekennzeichnete Rassen thatsächlich existieren, und
sodann nachsehen, ob es anatomische Charaktere giebt, die zur Klassi-
fikation verwertbar sind.

Ein solcher Exkurs in das Gebiet der anatomischen WissenschaftRationelle
Anthropologie.

hat nun zunächst das eine Gute, dass wir einsehen lernen, wie wenig
sichere Hilfe, wie wenig nützliche, für das praktische Leben verwert-
bare Belehrung wir von dorther zu erhoffen haben. Entweder wandeln
wir auf sandigem, schwebendem Boden, oder auf morastigem, wo
wir gleich bei den ersten Schritten einsinken und festkleben, oder
aber wir müssen auf den nadelscharfen Spitzen der Dogmatik von
einem Gipfel zum anderen springen und fallen heute oder morgen
in den Abgrund hinunter. Dieser Exkurs hat aber doch noch andere,
positivere Vorteile: er bereichert unser Wissensmaterial und lehrt uns
schärfer sehen. Dass die Rassen ebenso wenig wie die Individuen
gleich begabt sind, das bezeugen Geschichte und tägliche Erfahrung;
die Anthropologie lehrt uns nun ausserdem (und trotz Professor Koll-
mann), dass bei Rassen, welche bestimmte Thaten vollbrachten, eine
bestimmte physische Gestaltung die vorherrschende war. Der Fehler
ist der, dass man mit zufälligen Zahlen der Vergleichsobjekte operiert
und nach willkürlich gewählten Verhältnissen misst. So wird z. B. fest-
gesetzt, sobald die Breite eines Schädels zur Länge 75 zu 100 (oder
weniger) betrage, sei dieser Schädel »dolichocephal«, mit 76 oder schon
mit 75¼ ist er »mesocephal«, und von 80 ab »brachycephal«. Wer
sagt das denn? warum soll gerade in der Zahl 75 eine besondere Magie
liegen? eine andere Magie als die meiner Faulheit und Bequemlichkeit?
Dass wir ohne termini technici und ohne Grenzen in der täglichen
Praxis nicht auskommen können, begreife ich recht wohl, was ich aber
nicht begreife, ist, dass ich sie für etwas anderes als willkürliche Grenzen

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[495/0518] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. weiter; dann kamen aber geniale Männer von dem Schlage eines Ray, eines Jussieu, eines De Candolle, welche durch Beobachtung, gepaart mit schöpferischer Intuition, die Hauptfamilien der Pflanzen fest- stellten und dann erst die Charaktere entdeckten — meistens sehr verborgene — welche es gestatten, die Verwandtschaft auch anatomisch darzuthun. Ähnlich bei der Tierwelt. Jedes andere Verfahren ist durchaus künstlich und folglich blosse Spielerei. Darum dürfen wir auch beim Menschen nicht, wie Kollmann es thut, nach anatomischem Gutdünken ein System aufbauen, in welches sich die Thatsachen dann zu fügen haben, so gut und so schlecht es geht, sondern wir müssen zuerst feststellen, welche Gruppen als individualisierte, moralisch und intellektuell gekennzeichnete Rassen thatsächlich existieren, und sodann nachsehen, ob es anatomische Charaktere giebt, die zur Klassi- fikation verwertbar sind. Ein solcher Exkurs in das Gebiet der anatomischen Wissenschaft hat nun zunächst das eine Gute, dass wir einsehen lernen, wie wenig sichere Hilfe, wie wenig nützliche, für das praktische Leben verwert- bare Belehrung wir von dorther zu erhoffen haben. Entweder wandeln wir auf sandigem, schwebendem Boden, oder auf morastigem, wo wir gleich bei den ersten Schritten einsinken und festkleben, oder aber wir müssen auf den nadelscharfen Spitzen der Dogmatik von einem Gipfel zum anderen springen und fallen heute oder morgen in den Abgrund hinunter. Dieser Exkurs hat aber doch noch andere, positivere Vorteile: er bereichert unser Wissensmaterial und lehrt uns schärfer sehen. Dass die Rassen ebenso wenig wie die Individuen gleich begabt sind, das bezeugen Geschichte und tägliche Erfahrung; die Anthropologie lehrt uns nun ausserdem (und trotz Professor Koll- mann), dass bei Rassen, welche bestimmte Thaten vollbrachten, eine bestimmte physische Gestaltung die vorherrschende war. Der Fehler ist der, dass man mit zufälligen Zahlen der Vergleichsobjekte operiert und nach willkürlich gewählten Verhältnissen misst. So wird z. B. fest- gesetzt, sobald die Breite eines Schädels zur Länge 75 zu 100 (oder weniger) betrage, sei dieser Schädel »dolichocephal«, mit 76 oder schon mit 75¼ ist er »mesocephal«, und von 80 ab »brachycephal«. Wer sagt das denn? warum soll gerade in der Zahl 75 eine besondere Magie liegen? eine andere Magie als die meiner Faulheit und Bequemlichkeit? Dass wir ohne termini technici und ohne Grenzen in der täglichen Praxis nicht auskommen können, begreife ich recht wohl, was ich aber nicht begreife, ist, dass ich sie für etwas anderes als willkürliche Grenzen Rationelle Anthropologie.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/518>, abgerufen am 24.11.2024.