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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Darauf kommt es nun hier an. Wir haben gesehen, wer derGermane und
Antigermane.

Germane ist;1) sehen wir jetzt, wie sein Eintritt in die Geschichte
sich gestaltete.

Ich bin weder fähig noch gewillt, in diesem Buche eine Geschichte
der Germanen zu geben; doch können wir unser 19. Jahrhundert,
weder insofern es ein Ergebnis der vorangegangenen ist, noch in
seiner eigenen riesigen Expansivkraft begreifen und schätzen, wenn
wir nicht klare Vorstellungen besitzen, nicht allein über das Wesen
des Germanen, sondern auch über den Konflikt, der seit anderthalb
Jahrtausenden zwischen ihm und dem Nicht-Germanen herrscht. Das
Heute ist das Kind des Gestern; was wir haben, ist zum Teil das
Erbe des vorgermanischen Altertums, was wir sind, ist ganz das Werk
jener Urgermanen, die man uns als "Barbaren" hinzustellen beliebt,
als wäre die Barbarei eine Frage der relativen Civilisation und als
bezeichne sie nicht einzig eine Verwilderung des Gemütes. Treffend
leuchtete Montesquieu schon vor 150 Jahren in diese Begriffsver-
wirrung hinein; nachdem er ausgeführt hat, wie alle Staaten, die
das heutige Europa ausmachen (Amerika, Afrika, Australien kamen
damals noch nicht in Betracht), das Werk der plötzlich aus unbekannten
Wildnissen aufgetauchten germanischen Barbaren seien, fährt er fort:
"Doch eigentlich waren diese Völker keine Barbaren, da sie frei waren;
Barbaren sind sie erst später geworden, als sie, der absoluten Macht
unterworfen, der Freiheit verlustig gingen".2) In diesen Worten ist
sowohl der Charakter der Germanen ausgesprochen, wie auch das
Schicksal, gegen welches sie unablässig anzukämpfen haben sollten.
Denn es ist nicht abzusehen, welche einheitliche, in sich abgeschlossene
Kultur auf einem reingermanischen Boden hätte entstehen können; statt
dessen trat aber der Germane in eine schon fertig gestaltete Welt-
geschichte ein, in eine Weltgeschichte, mit der er bisher in keine
Berührung gekommen war. Sobald der nackte Kampf ums Dasein
ihm Musse dazu liess, erfasste er mit Leidenschaft die beiden konstruk-
tiven Gedanken, welche die in völliger Auflösung begriffene "alte
Welt" noch in ihren Todeskämpfen auszubilden bestrebt war: das
Kaisertum und das Christentum. War das ein Glück? Wer dürfte

1) Das ganze neunte Kapitel, indem es die germanische Civilisation und Kultur
in ihren Hauptlinien zu schildern unternimmt, bildet eine Ergänzung zu dem hier
mit möglichst wenig Strichen Skizzierten.
2) Lettres persanes, CXXXVI.
Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Darauf kommt es nun hier an. Wir haben gesehen, wer derGermane und
Antigermane.

Germane ist;1) sehen wir jetzt, wie sein Eintritt in die Geschichte
sich gestaltete.

Ich bin weder fähig noch gewillt, in diesem Buche eine Geschichte
der Germanen zu geben; doch können wir unser 19. Jahrhundert,
weder insofern es ein Ergebnis der vorangegangenen ist, noch in
seiner eigenen riesigen Expansivkraft begreifen und schätzen, wenn
wir nicht klare Vorstellungen besitzen, nicht allein über das Wesen
des Germanen, sondern auch über den Konflikt, der seit anderthalb
Jahrtausenden zwischen ihm und dem Nicht-Germanen herrscht. Das
Heute ist das Kind des Gestern; was wir haben, ist zum Teil das
Erbe des vorgermanischen Altertums, was wir sind, ist ganz das Werk
jener Urgermanen, die man uns als »Barbaren« hinzustellen beliebt,
als wäre die Barbarei eine Frage der relativen Civilisation und als
bezeichne sie nicht einzig eine Verwilderung des Gemütes. Treffend
leuchtete Montesquieu schon vor 150 Jahren in diese Begriffsver-
wirrung hinein; nachdem er ausgeführt hat, wie alle Staaten, die
das heutige Europa ausmachen (Amerika, Afrika, Australien kamen
damals noch nicht in Betracht), das Werk der plötzlich aus unbekannten
Wildnissen aufgetauchten germanischen Barbaren seien, fährt er fort:
»Doch eigentlich waren diese Völker keine Barbaren, da sie frei waren;
Barbaren sind sie erst später geworden, als sie, der absoluten Macht
unterworfen, der Freiheit verlustig gingen«.2) In diesen Worten ist
sowohl der Charakter der Germanen ausgesprochen, wie auch das
Schicksal, gegen welches sie unablässig anzukämpfen haben sollten.
Denn es ist nicht abzusehen, welche einheitliche, in sich abgeschlossene
Kultur auf einem reingermanischen Boden hätte entstehen können; statt
dessen trat aber der Germane in eine schon fertig gestaltete Welt-
geschichte ein, in eine Weltgeschichte, mit der er bisher in keine
Berührung gekommen war. Sobald der nackte Kampf ums Dasein
ihm Musse dazu liess, erfasste er mit Leidenschaft die beiden konstruk-
tiven Gedanken, welche die in völliger Auflösung begriffene »alte
Welt« noch in ihren Todeskämpfen auszubilden bestrebt war: das
Kaisertum und das Christentum. War das ein Glück? Wer dürfte

1) Das ganze neunte Kapitel, indem es die germanische Civilisation und Kultur
in ihren Hauptlinien zu schildern unternimmt, bildet eine Ergänzung zu dem hier
mit möglichst wenig Strichen Skizzierten.
2) Lettres persanes, CXXXVI.
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[511/0534] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. Darauf kommt es nun hier an. Wir haben gesehen, wer der Germane ist; 1) sehen wir jetzt, wie sein Eintritt in die Geschichte sich gestaltete. Germane und Antigermane. Ich bin weder fähig noch gewillt, in diesem Buche eine Geschichte der Germanen zu geben; doch können wir unser 19. Jahrhundert, weder insofern es ein Ergebnis der vorangegangenen ist, noch in seiner eigenen riesigen Expansivkraft begreifen und schätzen, wenn wir nicht klare Vorstellungen besitzen, nicht allein über das Wesen des Germanen, sondern auch über den Konflikt, der seit anderthalb Jahrtausenden zwischen ihm und dem Nicht-Germanen herrscht. Das Heute ist das Kind des Gestern; was wir haben, ist zum Teil das Erbe des vorgermanischen Altertums, was wir sind, ist ganz das Werk jener Urgermanen, die man uns als »Barbaren« hinzustellen beliebt, als wäre die Barbarei eine Frage der relativen Civilisation und als bezeichne sie nicht einzig eine Verwilderung des Gemütes. Treffend leuchtete Montesquieu schon vor 150 Jahren in diese Begriffsver- wirrung hinein; nachdem er ausgeführt hat, wie alle Staaten, die das heutige Europa ausmachen (Amerika, Afrika, Australien kamen damals noch nicht in Betracht), das Werk der plötzlich aus unbekannten Wildnissen aufgetauchten germanischen Barbaren seien, fährt er fort: »Doch eigentlich waren diese Völker keine Barbaren, da sie frei waren; Barbaren sind sie erst später geworden, als sie, der absoluten Macht unterworfen, der Freiheit verlustig gingen«. 2) In diesen Worten ist sowohl der Charakter der Germanen ausgesprochen, wie auch das Schicksal, gegen welches sie unablässig anzukämpfen haben sollten. Denn es ist nicht abzusehen, welche einheitliche, in sich abgeschlossene Kultur auf einem reingermanischen Boden hätte entstehen können; statt dessen trat aber der Germane in eine schon fertig gestaltete Welt- geschichte ein, in eine Weltgeschichte, mit der er bisher in keine Berührung gekommen war. Sobald der nackte Kampf ums Dasein ihm Musse dazu liess, erfasste er mit Leidenschaft die beiden konstruk- tiven Gedanken, welche die in völliger Auflösung begriffene »alte Welt« noch in ihren Todeskämpfen auszubilden bestrebt war: das Kaisertum und das Christentum. War das ein Glück? Wer dürfte 1) Das ganze neunte Kapitel, indem es die germanische Civilisation und Kultur in ihren Hauptlinien zu schildern unternimmt, bildet eine Ergänzung zu dem hier mit möglichst wenig Strichen Skizzierten. 2) Lettres persanes, CXXXVI.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/534>, abgerufen am 24.11.2024.